Von Ostdeutschland nach Westdeutschland

Erinnerungen an unsere Flucht im August 1989

von Dolores und Hans-Michael Fritz

Warum Flucht aus der DDR? Die politischen und wirtschaftlichen Zustände in der DDR in den 1980er Jahren waren für einen Teil der Bevölkerung so unerträglich geworden, dass eine Ausreise auf legale oder auch auf illegale Art nach reiflichen Überlegungen oft der einzige Ausweg war.

 

Ich, Hans-Michael Fritz, hatte z.B. bei der Ausübung meines Berufes als Bauingenieur im Militärbau für die damals in der DDR stationierte Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte seit 1987 immer die Konfliktsituation zu bewältigen, vor Mitarbeitern der Staatssicherheit der DDR Rede und Antwort bezüglich Geheimnisschutz stehen zu müssen. Hätte ich dies verweigert, wär es einer Arbeitsverweigerung gleichgekommen. Anfänglich waren es Fragen, die sich ausschließlich auf die Qualität und Termintreue der zu leistenden Arbeit bezogen. Später waren es Fragen über Mitarbeiter, deren wahrheitsgemäße Beantwortung für mich ein Verrat gegenüber den Betroffenen gewesen wäre. Also schob ich Unwissenheit vor. Doch es war ein großer Irrtum meinerseits zu hoffen, der Staatssicherheitsdienst würde es dabei bewenden lassen. Die Daumenschrauben wurden immer fester angesetzt. Bei Gesprächen unter vier Augen in der damaligen Baufirma wurde ich mit unverhohlenen Drohungen unter Druck gesetzt, die zum Beispiel der Ausbildung unserer damals 18jährigen Tochter galten.

 

Zusammengefasst: Die berufliche Situation ließ für mich Ende 1989 eine Zukunft in der damaligen DDR nicht mehr erkennen. Dies war 

letztendlich der Grund für meine Überlegung, wie ich aus der DDR herauskommen konnte. Eine offiziell beantragte Ausreise hätte für mich Berufsverbot und wegen der Kenntnis von scheinbar wichtigen militärischen Geheimnissen sicherlich auch Verurteilung und Inhaftierung für mehrere Jahre bedeutet. Dies aber wollte ich mir und meiner Familie nicht antun. Also blieb nur die Flucht übrig. Nach § 213 des Strafgesetzbuches der DDR war die sogenannte Republikflucht eine strafbare Handlung, auf die mindestens zwei bis drei Jahre Gefängnis standen.

 

Diese schwerwiegenden Überlegungen zur Flucht haben mich etwa zwei Monate lang intensiv beschäftigt, ehe ich mich Anfang 1989 meiner Frau anvertraute. Ich fand sofort Zustimmung. Es war eine sehr schwere Entscheidung, da dies nach damaliger Praxis einen Abschied von Verwandten und Freunden für immer bzw. für viele Jahre bedeutete, denn an spätere Besuchsreisen in die DDR war wegen der drohenden Strafverfolgung zunächst überhaupt nicht zu denken.

 

Um mich dem ständigen Druck des Staatssicherheitsdienstes der DDR zu entziehen, verließ ich zum 15. Juni 1989 durch eigene Kündigung die Baufirma, in der ich seit 13 Jahren beschäftigt gewesen war. Die folgende Zeit bis zur Flucht Mitte August war ich ohne Arbeit und Einkommen, da es zu keinen Einstellungen bei anderen ortsansässigen Baufirmen kam. Für mich war das ein deutlicher Beweis, dass die damaligen Personalchefs (Kaderleiter) 



der Firmen sich untereinander Informationen über mich zuspielten. Von einem eingeweihten Vertrauten bekam ich die Information, dass ich nicht eingestellt werden dürfe. Gründe seien nicht genannt worden. Eine Arbeitslosenunterstützung gab es in der DDR nicht. Ich lebte von dem bescheidenen Verdienst meiner Frau.

 

Was die Flucht betraf, so war zunächst geplant, dass ich es allein  über den Hafen von Danzig in Polen versuchen sollte, natürlich ohne legale Papiere. Wir hatten die naive Vorstellung, dass meine Frau dann im Rahmen einer "Familienzusammenführung", wie das damals hieß, nach vielleicht drei bis vier Jahren Wartezeit und Repressalien durch die DDR-Behörden offiziell würde ausreisen dürfen. Unsere damals bereits erwachsene Tochter war wirtschaftlich selbständig geworden und aus der elterlichen Wohnung ausgezogen.

 

Die Ausreise nach Polen war mir mit einer schriftlichen Einladung eines polnischen Bekannten von der zuständigen Behörde in Eberswalde genehmigt worden. Die Absicht, über den Danziger Hafen in Polen in die Freiheit zu gelangen, fiel jedoch schnell ins Wasser, da im Juli 1989 die polnische Miliz um den Freihafen von Danzig einen extrem stark bewachten Gürtel eingerichtet hatte. Angesichts dieser Uniformübermacht verließ mich der Mut. Ein anschließender Versuch, bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Warschau vorzusprechen, scheiterte, da mich bereits der Einlassdienst mit dem Rat abwies, ich solle mich wegen meiner 

Ausreise an meine eigene Regierung wenden. Damals verstand ich die Welt nicht mehr. Es blieb mir nichts anderes übrig, als in die DDR zurückzukehren. Wie groß die Überraschung meiner Frau war, aber auch die Freude über unser Wiedersehen, ist kaum zu beschreiben.

 

Nun ging es darum, wie wir es gemeinsam wagen konnten. Ungarn wurde erwogen, weil die Botschafter von Ungarn und Österreich im Mai 1989 symbolisch den Eisernen Vorhang durchschnitten hatten. Die Stacheldrahtsperren an der ungarischen Grenze zu Österreich hatten wir bereits bei Urlaubsreisen in den Vorjahren so genau wie möglich studiert. Die Planung stand nach kurzer Zeit: Wir wollten eine als Urlaubsreise getarnte Ausreise über Polen und die Tschechoslowakei nach Ungarn unternehmen und von dort den Durchbruch durch den damals faktisch noch vorhandenen Eisernen Vorhang  versuchen. Vertrauen zur bundesdeutschen Botschaft in Budapest hatten wir wegen der Erfahrung in Warschau nicht.

 

Bei all diesen Überlegungen besaß die Geheimhaltung unserer wahren Absichten oberste Priorität. Wir wollten zum eine niemanden mit unseren Absichten belasten, zum anderen aber auch keinen Verrat initiieren. Selbst unsere Tochter haben wir erst einige Tage vor der Abreise in unsere tatsächliche Absicht eingeweiht und ihr angeboten mitzukommen. Sie brachte für unsere ausweglose Situation viel Verständnis auf, wollte aber wegen einer festen Beziehung zu einem Freund, der damals gerade Militärdienst leistete, 



nicht mit uns gehen. Es war ein extrem schwerer Abschied, und wir heulten uns wegen der Trennung und der Ungewissheit über die Zukunft förmlich die Augen aus.

 

Die Tatsache, die Wohnung mit dem gesamten Mobiliar und alle Wertsachen zurücklassen zu müssen, hat uns zwar beschäftigt, war aber kein Grund für ein weiteres Ausharren in der DDR. Zu dieser Zeit im Juli 1989 rechnete trotz der ersten positiven Zeichen von Grenzöffnungen zwischen Ungarn und Österreich niemand damit, dass sich die politischen Verhältnisse im Land schnell lockern würden. Dazu war diese Regierung viel zu starrköpfig.

 

Ungarische Einreisepapiere für eine "harmlose Urlaubsreise" waren wohlweislich bereits im Mai 1989 von uns beantragt und uns auch ausgehändigt worden. Der Abschied von nahestehenden Verwandten und Freunden war sehr schwer, da wir uns nur in zwei Fällen trauten, unsere wahre Absicht bekanntzugeben. Ansonsten war es ein Abschied mit unterdrückten Tränen. Später sagten uns einige der verbliebenen Freunde, dass sie zwar gespürt hätten, dass wir anders gewesen waren als sonst, aber an eine Flucht habe niemand gedacht.  Gut für uns, denn Verrat konnte nie ausgeschlossen werden. Die Einsicht in meine Stasiakte im Februar 1999 hat mir dies denn auch bestätigt. Jahrelange Freundschaft ist kein absoluter Vertrauensbeweis! Ganz im Gegenteil wurden wir von einem vermeintlichen Freund rund neun Jahre bespitzelt. Ein Auszug aus 

meiner 547 DIN-A4-Seiten starken Akte belegt die Bespitzelung. Dort heißt es: "Weitere operativ relevante Angaben zur Person Fritz, Hans-Michael: Der Fritz und dessen Ehefrau nutzten eine Urlaubsreise in die VR Ungarn, um ungesetzlich in die BRD zu gelangen. Fritz war bis zum 15.06.1989 Geheimnisträger im VEB Spezialbau Potsdam, Betrieb Eberswalde, einem Betrieb der speziellen Produktion. Fritz und dessen Ehefrau führten eine Ehe, die geprägt war von großer Toleranz. Beide liebten die Geselligkeit, gingen oft tanzen und unterstützten aktiv das Karnevalsgeschehen in Eberswalde. Sie waren aktive Autotouristen. Sie verbrachten ihren Urlaub vorwiegend in der CSSR und in der VR Polen. Fritz beherrscht die russische Sprache soweit, daß er sich mit sowjetischen Bürgern gut verständigen kann. Der Fritz traf oft negative Aussagen zur Entwicklung in der DDR und vor allem zur Versorgungssituation."

 

Am 23. August 1989 starteten wir gegen Mittag mit unserem PKW, Typ Wartburg-Kombi zu unserer "üblichen Ungarnreise", so die offizielle Version. Die Ausreise in Frankfurt/Oder nach Polen verlief ohne Probleme, ein erstes Aufatmen war deutlich zu hören. Wir übernachteten in einer Pension bei Walbrzych (Waldenburg in Schlesien). Am nächsten Tag dauerte die Ausreise aus Polen wegen schleppender Abfertigung durch die Kontrolleure stundenlang und zehrte an unseren Nerven. Eine Radiomeldung über Absichten der DDR-Regierung zur Ausreise ließ in uns die Angst aufkommen, die Polen würden uns nicht ausreisen lassen. Wie so oft, verleitet Angst 



zu einer übertriebenen Bewertung reeller Situationen. So auch damals, denn die Ausreise verlief letztlich nach stundenlangem Warten auch wieder problemlos. Erleichterung überkam uns, denn wieder war eine Hürde genommen! Trotzdem gab es für uns jetzt keinen Grund mehr, die folgende Nacht noch in der Tschechoslowakei zu verbringen. Unser Motto lautete, möglichst weit weg von der DDR und schnell nach Ungarn zu gelangen. Dies erschien uns damals noch als ein relativ sicheres Land, das zumindest ohne Grund keinen DDR-Bürger an die DDR ausliefern würde.

 

Ankunft am 25. August 1989 in Budapest, Suche nach einer Bekannten. Wir brauchten noch aktuelle Informationen über das Verhalten ungarischer Behörden, Polizei und Grenzer, wenn man sich als DDR-Bürger - erkennbar am Kfz-Kennzeichen - in Grenznähe, d.h. unter 20 km von der Grenze entfernt, bewegen würde. Es geisterten Gerüchte umher, dass nach dem erfolgreichen Durchbruch von etwa 200 DDR-Bürgern am 19. August 1989 in der Nähe von Sopron die ungarischen Behörden bereits jedes DDR-Fahrzeug etwa 25 km vor ihrer Westgrenze zur Umkehr zwingen würden. Die Bekannte fanden wir nach langem Suchen und Herumfragen außerhalb von Budapest in ihrem Wochenendhaus im Bük-Gebirge. Spontan gab sie uns ihre 

Unterstützung, als sie von unserer Absicht erfuhr. Sie schrieb für uns in ungarischer Sprache drei Notizen, die ein Hilfeersuchen für den Notfall darstellten. Weiterhin erklärt sie uns, dass sie ihr T-Shirt während unserer Flucht links herum tragen wollte, da uns das Glück bringen würde. Diese Unterstützung gab uns Zuversicht und auch Kraft, die wir noch sehr benötigen sollten.

 

Am Samstag, den 26. August 1989 rief ich vom Budapester Keletibahnhof einen Verwandten in der Bundesrepublik an und teilte ihm unsere Absicht mit. Natürlich nicht im Klartext, da wir auch in Ungarn noch immer hinter jedem Baum einen Spitzel vermuteten. So groß war die Angst.

 

Über Nebenstraßen fuhren wir dann nach Westungarn, mieden dabei die Gegend um Sopron und wählten als vermeintliche Touristen südlich von Szombathely (Steinamanger) das Dorf Jak mit seiner romanischen Sankt-Georg-Kirche aus. Die Grenze ist von dort etwa 3 bis 4 km entfernt. Am späten Nachmittag stellten wir unser Auto auf dem Parkplatz in der Nähe der Kirche ab, und wieder gab es ein Abschiednehmen. Diesmal von unserem geliebten fahrbaren Untersatz, der in der DDR beim Neukauf ein Vermögen kostete und 



Wartezeiten von mindestens 15 Jahren mit sich brachte. In der Kirche wartete ich in einer Bank, bis sich mir eine alte Frau näherte, die die Sitzplätze reinigte. Am Abend sollte eine Trauung stattfinden. Ich schob ihr einen unserer Notzettel mit dem ungarischen Text zu: "Bitte helfen Sie uns. Wir sind Flüchtlinge aus der DDR." Vor Angst schlug mir das Herz bis zum Hals. Wie würde sich die Frau verhalten? Sie brummelte etwas und verschwand aus der Kirche. Ein banges Warten

begann. Wer würde kommen? Männer in Uniformen oder Helfer? Schließlich erschien ein Pfarrer und bat uns in sein Pfarrhaus. Er sagte, wenn in Budapest von der Kirche Asyl gewährt würde, könne er das auch tun. Wir wären seine lieben Kinder!

 

Kartenmaterial mit dem Verlauf der Grenze besaßen wir nicht, da so etwas im Ostblock aus naheliegenden Gründen nicht zu kaufen war. 

Der Grenzbereich und der sich anschließende österreichische Landstrich waren vollständig in Weiß gehalten. Wir erhielten von dem Pfarrer eine Kartenkopie aus einem Autoatlas, wobei er uns nachdrücklich auf eine nahegelegene Grenzkaserne hinwies.  Den ständig wechselnden Grenzverlauf von Nord-Süd nach Ost-West und umgekehrt haben wir an diesem Abend wegen unserer großen Anspannung nicht deutlich genug wahrgenommen. Später in der Nacht lernten wir das ganze Ausmaß des ständig wechselnden Grenzverlaufs kennen.

 

Nach einigen Stunden des Wartens und Kräftesammelns fuhr uns der Pfarrer im Schutze der Dunkelheit in seinem PKW vom Pfarrhaus aus Jak heraus in Richtung Körmend. Außerhalb des Dorfes ließ er uns hinter einer Kurve aus dem Auto. Der Straßengraben war randvoll mit Wasser, und beim Abrollen aus dem PKW in den schützenden Graben waren wir völlig durchnässt. Nun waren wir auf uns allein gestellt. Wir führten zwei Rucksäcke mit Wäsche zum Wechseln mit uns und eine Kneifzange zum Durchtrennen von Stacheldraht und waren fest entschlossen, den Grenzdurchbruch zu meistern. Den genauen Grenzverlauf hatten wir nur annähernd im Gedächtnis. Nach einigen hundert Metern über Ackergelände stießen wir auf eine dreifach hintereinander gestaffelte Stacheldrahtsperre, an der sich Isolatoren für einen Elektrozaun befanden. Mit viel Kraft trennten wir jeweils die beiden unteren Stacheldrähte durch, wobei die unter Spannung stehenden Drähte beim Zerreißen jedesmal ein für unser Gefühl schrecklich lautes Geräusch von sich gaben. Angst verspürten wir in diesem Moment kaum, die feste Entschlossenheit zur Flucht vermochte diese zu unterdrücken. 



Weiter ging es entlang eines Buschstreifens zu einem Hochwald. Am Waldrand gab es erneut einen Stacheldraht, allerdings in einem sehr desolaten und völlig eingewachsenen Zustand. Wir waren der Ansicht, dies müsse die Grenze sein, und schlichen weiter. Im Gedächtnis war uns ein Bauernhof auf österreichischem Gebiet geblieben. Nach einiger Zeit konnten wir in der Finsternis Umrisse von Gebäuden sowie ein Licht ausmachen, von dem wir annahmen, das sei der Bauernhof. Doch weit gefehlt. Es war die Grenzkaserne, womit das Verhängnis seinen Lauf nahm. Eine Alarmsirene schrillte in die Stille hinein, auf einem Wachturm gab es plötzlich Bewegung, wir hörten Gesprächsfetzen und Hundegebell. Nichts wie weg, war unsere Devise, und so flüchteten wir in Panik in die Dunkelheit, weg von der Kaserne über einen Kolonnenweg auf ein abgeerntetes Maisfeld. Der Lehmboden war nass, und die Schritte wurden schnell immer mühsamer. Nach einigen hundert Metern ließen wir uns völlig außer Atem und erschöpft auf die Erde fallen. Inzwischen setzten sich Militärfahrzeuge von der Kaserne aus in Bewegung und umfuhren beidseitig das Feld, in dem man uns vermutete. Die Grenzer leuchteten mit Scheinwerfern das Feld ab. Die Lichtkegel strichen auch über unsere Köpfe, doch man entdeckte uns nicht, da wir fest auf die Erde gepresst im Dreck lagen. Um nicht durch lautes Keuchen entdeckt zu werden, steckten wir uns eine Faust in den Mund. Die Suche der Grenzer dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Vielleicht war es eine halbe Stunde? Wir wissen es nicht. Endlich rückten die Männer 

ab, und die Gefahr einer Entdeckung schien zunächst vorbei zu sein. Wie aber nun weiter? Wo war die Grenze? Heute wissen wir, dass wir bereits kurz davor waren, doch war dies angesichts unserer damaligen Panik in der Finsternis und dem nun auch noch einsetzenden Regen nicht zu erkennen.

 

Wir schlichen in der entgegengesetzten Richtung von der Kaserne und den Grenzern fort, stießen wieder auf die dreifache Stacheldrahtsperre mit dem Kolonnenweg, schwenkten in eine Senke mit Wiesen hinein, trafen auf einen Viehtränkwagen mit ungarischem Nummernschild, stießen nach geraumer Zeit auf einen tiefen Graben und einen sich daran anschließenden Wald und machten völlig erschöpft etwa eine halbe Stunde lang Rast. Damals ahnten  wir nicht, dass wir uns zu diesem Zeitpunkt ganz sicher bereits in Österreich befanden, doch woran sollten wir das in der Finsternis auch erkennen, da es weder Schilder noch sonstige Hinweise gab? Also irrten wir erneut umher und gelangten so wieder auf ungarisches Gebiet, trafen wieder auf den Viehtränkwagen - eine niederschmetternde Erkenntnis, im Kreis gelaufen zu sein -, stießen im Morgengrauen nördlich der Kaserne erneut auf die Dreifachsperre und sahen vor uns die Kirchtürme von Jak. Dies war für uns die schreckliche Gewissheit, nichts geschafft zu haben, und dabei sowohl physisch als auch psychisch völlig am Ende zu sein. Bereits seit neun Stunden waren wir ununterbrochen auf den Beinen und auf der 



Flucht. Dieser Zustand ließ uns anfänglich auf der Kolonnenstraße in Richtung Jak laufen. Getragen von dem einzigen Gedanken, endlich die nasse Kleidung abzulegen, etwas zu essen und danach zu schlafen. Selbst eine Festnahme wäre uns in diesem Moment wohl egal gewesen. Ein physischer und psychischer Tiefpunkt!

 

Doch nach wenigen Metern Gehen war der Gedanke an die Flucht wieder da. Wenn wir es schon so weit geschafft hatten, dann musste das Letzte auch noch zu schaffen sein! Also umgedreht, wieder zu der Weide mit dem Viehtränkwagen, als wir auf einmal von fern ein dumpfes Motorengeräusch hörten. Es war eine Melkmaschine des örtlichen Kolchos. Wir strebten zu dem dortigen Unterkunftswagen, in dem sich mehrere Männer befanden. Wir gaben uns zu erkennen und übergaben einen zweiten Notzettel, doch kam von den Männern keine Reaktion. Man wollte oder konnte uns nicht helfen. Von heute aus betrachtet, würde ich dieses Verhalten als Furcht vor den anderen Anwesenden deuten, als Misstrauen untereinander. Wir liefen dann auf einem verschlammten Vieh- und Fahrweg weiter, brachten einen uns folgenden Traktor dazu anzuhalten, und ich schrie dem Fahrer irgndwelche verzweifelten Worte ins Gesicht. Wir durften aufsitzen, und nach ein paar hundert Metern wies der Fahrer in eine Richtung. Dort sahen wir erstmalig in etwa 200 m Entfernung einen Wachturm der Ungarn. Wir schlichen uns im Schutz von Gebüschstreifen in Richtung der vermuteten Grenze. Ich beobachtete 

sorgfältig den Turm, ob er von Grenzern besetzt war. Da ich nichts entdecken konnte, wagten wir den letzten risikoreichen Schritt, indem wir im Schussfeld dieses Turms bis zum letzten Kolonnenweg vorstießen. Dort erkannten wir auf der gegenüberliegenden Seite im Dornendickicht einen weiteren Stacheldrahtzaun in einem verfallenen Zustand. Kurz gesichert, dann über den Weg gehastet, die Rucksäcke über einen etwa  4 m breiten Gehölzstreifen geworfen und dann in einem Wildwechselpfad durch das Dornengestrüpp nach Österreich auf allen Vieren gerobbt. Dort angekommen, trauten wir uns einen Erfolg unserer Flucht noch nicht zu. Zu groß waren die Anspannung und zugleich die Erschöpfung. Außerdem fanden wir zunächst keinen Hinweis auf österreichisches Staatsgebiet. Also schlichen wir weiter im Schutz von Büschen, den Bauernhof meidend, bis wir auf einen asphaltierten Weg stießen. Dies war für uns ein erstes Zeichen, es geschafft zu haben, denn im Ostblock gibt es außer in Staatsjagdgebieten keine asphaltierten Feldwege. Ganz sicher waren wir nach einigen Metern, als wir am Feldrand ein Schild mit Text in deutscher Sprache fanden, dass es sich um ein burgenländisches Versuchsfeld handelte.

 

Es war Sonntag, der 27. August 1989 um 8.25 Uhr. Mehr als 11 Stunden Flucht und Herumirren lagen hinter uns. Wir hatten es geschafft! Aber noch war die Anspannung zu groß, um uns über den seit Jahrzehnten herbeigesehnten Moment freuen zu können, in 



Freiheit zu sein. Das kam erst später, als wir uns in der Obhut von liebenswerten Burgenländern im Dorf Oberbildein befanden. Ein langer Fußmarsch vom Gelände um den Bauernhof bis zu den ersten Häusern in Oberbildein machte uns noch zu schaffen, aber wir hatten wieder Mut und auch Kraft gefasst. In dem Ort angekommen, fragten wir eine Frau nach der Dorfkirche und dem Pfarrer.  Sie antwortete uns in einem stark ungarisch gefärbten Dialekt, der uns sofort das Herz wieder in die Hose rutschen ließ. Waren wir etwa wieder in Ungarn? Wir verstanden nichts von dem, was sie uns erzählte. Wir überlegten, was wir tun sollten. Plötzlich kam über die Hauptstraße ein grüner VW-Käfer gefahren, fuhr an uns vorüber, bremste gleich darauf, setzte zu uns zurück, und heraus stiegen zwei in grüne Uniformmäntel gekleidete Zollbeamte. Sie musterten uns - sicherlich wegen der völlig verdreckten Kleidung - und fragten, wo wir herkämen. Nun gab es kein Halten mehr. Wir gaben uns zu erkennen, und die Zwei waren plötzlich wie aus dem Häuschen. "Ihr seid's ja hier die Ersten!", riefen sie aus. Anschließend hinein in den Käfer und Fahrt zum Gebäude der Zollwache zwischen Ober- und Unterbildein. Dort erfolgte zwar die erste offizielle Befragung nach unseren persönlichen Daten, doch spürten wir von Beginn an eine warme und herzliche Aufnahme durch die Beamten. Aus Freude über unsere gelungene Flucht schenkte ich dem einen Zollbeamten meine Kneifzange, die mir beim Durchtrennen des Stacheldrahts so nützlich gewesen war.

Die nächsten Stationen sind schnell erzählt. Aufnahme durch die Gendarmerie in Güssing, dann Übergabe an die Bezirksstelle des Österreichischen Roten Kreuzes ebenfalls in Güssing, einer Sammelstelle für die Flüchtlinge aus der DDR. Es waren am Sonntagmittag dort etwa 8 bis 10 Personen anwesend. Wir tauschten uns aus, wie es jedem so ergangen war. Uns allen stand die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben, aber auch die große Freude und Erleichterung, in guter Obhut zu sein. Wir konnten unsere verschmutzte Kleidung gegen andere eintauschen, die sicherlich aus Spenden von der burgenländischen Bevölkerung gekommen war. Wir spürten am eigenen Leibe, wie wichtig Sach- und Kleiderspenden, aber auch eine freundliche Aufnahme und warmherzige, aufmunternde Worte sein können. Die bescheidenen Geldvorräte in Mark der DDR, polnischen Zloty, tschechischen Kronen und ungarischen Forint tauschte ein hilfsbereiter Angehöriger des Roten Kreuzs noch am Sonntagmittag bei einer Bank für uns. Die Bezirksstelle des ÖRK umsorgte uns Flüchtlinge mit den wichtigsten Utensilien wie Toiletten- und Hygieneartikel, Verpflegung und anderem mehr. Damals lernten wir die Freundlichkeit und Offenherzigkeit der Burgenländer erstmalig kennen und schätzen. Sie ist uns unvergessen geblieben!

 

Um 18 Uhr fuhren wir mit dem Linienbus von Güssing nach Wien. Ausstieg am Karlsplatz und zur Botschaft der Bundesrepublik 



Deutschland. Hier begann die von der Botschaft organisierte Unterstützung, die ebenso herzlich und freundlich war. Wir erhielten eine Einweisung in das Hotel "Goldene Spinne" in der Linken Bahngasse. Später bemerkten wir, dass es sich wohl um ein Stundenhotel handelte, doch war das in dieser Situation völlig nebensächlich. In dem Hotel versanken wir in einen Tiefschlaf. Die österreichische Regierung verhielt sich uns gegenüber großzügig, indem sie uns als DDR-Flüchtlingen die Ausreise ohne Visaformalitäten gestattete. Ein Teil der Botschaftsangehörigen bis hin zum Botschafter und dessen Gattin kümmerten sich mit viel Engagement und Aufopferung um uns Flüchtlinge.

 

Freie Zeit bis zur Zugabfahrt am Abend um 21 Uhr nach Deutschland ließ uns die schöne Stadt Wien mit Augen, Ohren und Nase erkunden. Ein unvergesslicher Eindruck. Selbst die aus Kaffeehäusern strömenden Düfte nach frischem Kaffee sind mir in Erinnerung geblieben. Ein bescheidenes Mittagessen bei einem Italiener in der Annagasse war Anlass für zwei Wiener, uns wegen der erfolgreichen Flucht zu einem Obstler einzuladen. In der Erzbischöflichen Diözese bat ich um die Übermittlung einer Nachricht über unser erfolgreiches Ankommen in Wien an den Pfarrer in Jak. Nach der Schilderung unserer Bitte erhielten wir spontan von einer Mitarbeiterin 

Glückwünsche und eine Geldspende überreicht. Es war für uns eine tief bewegende Situation.

 

Unsere Odyssee endete schließlich nach zwei weiteren Tagen eines Zwischenaufenthaltes im Durchgangslager Gießen (Unterkunft mit Hunderten von Flüchtlingen und offiziell Ausgereisten in einem leerstehenden Firmengebäude in Garbenheim bei Wetzlar) am 31. August 1989 in München, unserem Ziel.

 

Wir wurden des öfteren gefragt, ob wir angesichts des späteren Falls des Eisernen Vorhangs nicht noch hätten warten können. Nein! Im August 1989 gab es für diese Entwicklung noch keine ernst zu nehmenden Anzeichen. Unseren Schritt haben wir zur rechten Zeit getan, denn erst die dramatische Zunahme der Flüchtlingszahlen hat in der DDR im Herbst zu den Massendemonstrationen mit der Hauptlosung "Wir sind das Volk, wir bleiben hier!" geführt.

 

Mit diesem ausführlichen Bericht über unsere persönlichen Eindrücke und Erlebnisse wollen wir auch einen kleinen Beitrag für die nachfolgenden Generationen leisten, die hoffentlich die Geschehnisse einer Flucht nur noch aus Erzählungen kennenlernen mögen.