30 Jahre - 

Wie Kurtschläger den 9. November 1989 erlebten

9. November 1989 - der Tag, an dem die Mauer fiel und an dem begann, was mit der deutschen Wiedervereinigung ein Jahr später seinen Fortgang fand. Ein ganz besonderes Datum für die deutsche Geschichte und zugleich ein besonderes Datum für jeden von uns. Wir haben Kurtschläger gebeten aufzuschreiben, was ihnen im Zusammenhang mit dem 9. November in Erinnerung geblieben ist und was sie mit diesem Datum verbinden. Entstanden sind 12 Berichte, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Thema auseinandersetzen. Jeder von ihnen ist lesenswert, weil jeder Verfasser eine eigene Sicht auf die Dinge hat. Wir danken allen Kurtschlägern, die sich mit Beiträgen an dieser Serie beteiligt haben.

 

Eine Ergänzung vom August 2021: Vor einigen Monaten rief eine Dame aus dem Regionalmuseum Oberhavel (ReMO) in Oranienburg bei uns an. Die Dauerausstellung des Museums werde gegenwärtig vollständig erneuert, erklärte sie, und für diese neue Ausstellung würde man gern sechs unserer Berichte über den 9. November nutzen. Ob wir damit einverstanden seien. Wir waren damit einverstanden, und so gelangten sechs der nachfolgenden Texte in die neue Ausstellung. Am 13. August 2021 öffnete das Museum wieder seine Pforten. Wer etwas über diese Eröffnung sowie über das Museums selbst erfahren möchte, der hat hier die Möglichkeit.


Kalle und Brigitte Hörning

(Wieder ein "Wessi"-Bericht) Wir mussten ziemlich lange überlegen, was denn unsere persönlichen Erfahrungen mit dem Mauerfall und der Wende waren und was davon erzählenswert ist. Natürlich haben auch wir die Entwicklung in den Medien verfolgt: die große Kundgebung auf dem Alexanderplatz mit vielen bekannten Persönlichkeiten, die Demo in Leipzig, die Entmachtung Honeckers, das Gestammel von Schabowski im Fernsehen und natürlich die Berichte von der Bornholmer Brücke und die Trabischlangen an der Invalidenstraße, aber persönlich erlebt war davon nur wenig. Also haben wir uns für die folgenden zwei Geschichten entschieden, die auch ein Licht auf die Stimmung in der Wendezeit werfen:

 

Wir sind schon in den Jahren vor der Wende regelmäßig nach Ostberlin gefahren über den Grenzübergang Friedrichstraße durch den "Tränenpalast". Wir haben viele Theaterstücke im Berliner Ensemble mit tollen Schauspielern gesehen, aber auch eindrucksvolle Aufführungen im Deutschen Theater und dem Maxim-Gorki-Theater genossen. Vorher haben wir immer in dem Buchladen am Alexanderplatz eingekauft und hofften dann, dass am Grenzübergang nichts beanstandet werden würde. Bei ganz viel 

Glück gab es dann noch einen Platz im "Gastmahl des Meeres" und wir wurden vom "Besten im Service" platziert. Bei einem unserer Besuche kurz vor der Wende waren wir in einer Ausstellung (40 Jahre Malerei der DDR) im Alten Museum. Zufällig gerieten wir in eine Führung, die so anregend und lebendig war, dass wir anschließend den Ausstellungsführer fragten, ob er für eine Gruppe aus Westberlin auch eine Führung durch die Ausstellung machen würde. Der sehr sympathische junge Mann - er hieß Jörg - erklärte sich sofort bereit, und wir verabredeten uns. Einige Wochen später reisten wir dann mit einigen Freunden erneut in die Hauptstadt der DDR ein. Jörg war in Bestform und gestaltete die Führung lebendig, kritisch und kenntnisreich. Wir waren alle restlos begeistert und dankten ihm überschwänglich. Als ich ihm zum Abschied noch um den Hals fallen wollte, stoppte er mich freundlich, aber bestimmt. "Moment, zuerst die Damen, auch als Marxisten sind wir doch Kavaliere." Er erzählte dann noch bescheiden, dass diese Art von Arbeit eben sein Beitrag für die Verständigung zwischen Ost und West sei. Das war gerade die Zeit, als sich beide Systeme mit Pershing II und Cruise Missiles auf der einen und SS-20-Raketen auf der anderen Seite hochgerüstet gegenüberstanden. Zum Glück gab es kurz darauf in  



erster Linie dank Gorbatschow eine Phase der Friedens- und Abrüstungspolitik, in deren Zuge dann auch die Wende möglich wurde. Leider wurde es ihm und den russischen Vertragspartnern schlecht gedankt. Inzwischen wurden die Abrüstungsverträge gekündigt, und ein neues Wettrüsten droht.

 

Die zweite Geschichte passierte im Sommer des Jahres 1989. Wir waren mit Freunden und Fahrrädern auf dem Auto nach Potsdam eingereist und haben dort eine sehr schöne Fahrradtour um den Templiner See gemacht. Dann waren wir noch am Heiligen See schwimmen, um anschließend auf dem Parkplatz am Cecilienhof das Auto wieder zu beladen. Als es wieder heimwärts gehen sollte, stellte unser Freund, der Autobesitzer, plötzlich fest, dass er seinen Autoschlüssel verloren hatte. Alles Suchen half nichts, der Schlüssel war nicht aufzufinden. Die Volkspolizei wurde benachrichtigt, und es wurde beraten, was zu tun sei: Auto aufbrechen lassen oder ohne Auto wieder ausreisen, beides eine kostspielige Angelegenheit. Nun wohnte unser Freund am Mexikoplatz in Zehlendorf, also unweit der Grenze, und vor allem unsere Frauen diskutierten weiter mit den Volkspolizisten, ob es nicht doch eine andere Lösung gäbe. Offiziell gab es natürlich keine, aber nachdem vor allem meine Frau Brigitte

ihren ganzen Charme aufgeboten hatte, erklärten sich die Ordnungshüter bereit, den Freund bis zur Grenze zu fahren, damit er mit dem Bus zum Mexikoplatz, den Zweitschlüssel holen und wieder einreisen konnte. Offensichtlich wehte der Wind of Change schon durch die Potsdamer Sommerluft, so dass sich die beiden Volkspolizisten ermutigt fühlten, einfach vernünftig, menschlich und unbürokratisch zu handeln, was wenige Jahre vorher noch undenkbar gewesen wäre. - Nun hatten ja die drei übrig gebliebenen Personen noch etwas Zeit, bis der Freund mit dem Schlüssel wieder eintreffen würde. Zufällig fand an diesem Abend vor dem Neuen Palais im Park Sanssouci ein klassisches Konzert statt mit der Aufführung von Beethovens 9. Symphonie mit der Ode an die Freude als Höhepunkt zum Schluss. Also haben wir uns eine Flasche Rotkäppchen besorgt und das gesamte Konzert bis zum Höhepunkt in höchst beschwingter Stimmung genossen. Danach trafen wir uns am Cecilienhof mit unserem Freund und schafften es gerade noch kurz vor Toresschluss, den Grenzübergang zu passsieren. Tja: So nah liegen Pech und Glück manchmal beieinander. Dank noch mal an die freundlichen Polizisten, denen diese gute Tat hoffentlich Glück gebracht hat.


Veranstaltung zum 25. Jahrestag des Mauerfalls (2014)

Annette Heuer

Nach der Maueröffnung dauerte es noch Wochen, bis wir gemeinsam mit unseren Nachbarn das allererste Mal nach Westberlin fuhren. Es war ein schönes, aber auch befremdliches Gefühl. Ich kann mich erinnern, dass wir mit unseren Eltern 1960 zu einer Hochzeit eingeladen waren. Als Kind war das ein tolles Ereignis gewesen. Wir fuhren damals mit einem Doppelstockbus. Nach so vielen Jahren konnten wir einen Besuch bei den Verwandten machen. Das Hochhaus war grau, und im Inneren wirkte es kalt. Die Verwandten saßen auf gepackten Koffern, sie wollten in den nächsten Tagen zu 

ihrem Sohn ziehen. Meine Tante wuselte in der Küche, und ich traute mich auf den Balkon im 11. Stock. Die Aussicht auf Berlin war großartig, und man konnte vieles entdecken. Die Höhe aber war nicht meins. Nach dem Besuch gingen wir durch die Geschäfte. Es war bunt und laut, ich wusste gar nicht, wo ich zuerst hinschauen sollte. Der Tag war anstrengend, meine Augen und meine Füße taten mir weh, mein Wunsch war es zurückzufahren. Viele Menschen, Graffiti an den Wänden, die Hektik und die Lautstärke waren für mich ungewohnt.


Angelika Gühl

Am Abend des 9. November habe ich von der Maueröffnung noch nichts erfahren, ich bin wie üblich ins Bett gegangen. Als am nächsten Morgen um 10 Uhr die ersten Kunden kamen (ich habe damals bei der Post gearbeitet), haben die mir von der offenen Grenze berichtet. Mittags habe ich mir dann alles im Fernsehen angesehen. Währenddessen hat mein Sohn (er war damals ein Jahr alt) einen Becher mit heißem Kaffee umgestoßen. Dabei hat er sich verbrüht. Teile der Haut waren betroffen, vor allem aber ist ihm heißer Kaffee in die Kehle geraten. Ich habe ihn sofort ausgezogen, unter eine eiskalte Dusche gestellt, in ein Leinentuch gewickelt und bin mit ihm so schnell wie möglich nach Templin ins Krankenhaus gefahren. Die Straßen unterwegs waren sehr voll, viele Menschen waren auf dem Weg, sich ein Visum für einen Besuch in Westberlin zu besorgen. Ich bin so schnell gefahren, dass die Polizei hinter mir her war. Wie mir der Arzt bestätigt hat, habe ich alles richtig gemacht. Er hat meinen Sohn behandelt und mir dann gesagt: "Das Einzige, was er jetzt essen kann, sind Bananen." Weil es die bei uns nicht gab, bin ich sofort nach  Westberlin gefahren, was durch die Maueröffnung am Vortag ja möglich war. (Mein Mann war auf der Arbeit, der hat erst nach meiner Rückkehr von meinem Ausflug erfahren.) Ich wollte Bananen kaufen,

aber alle Läden waren wie leergefegt. Schließlich habe ich einen älteren Herrn mit einem Beutel Bananen gesehen. Ich habe ihn gebeten, mir drei Stück zu verkaufen, ich würde ihm 5 DM dafür bezahlen (die hatte ich von Verwandten aus Westdeutschland). Er war ganz verwirrt, aber er gab mir die Bananen. Ich bin dann ganz schnell ins Krankenhaus gefahren. Drei Bananen waren zu viel für meinen Sohn, deshalb haben andere Kinder auch noch etwas abbekommen. Mein Sohn blieb bis vor Weihnachten im Krankenhaus.

 

Etwa drei Wochen später sind wir dann alle zusammen nach Westberlin gefahren. Wir haben uns das Begrüßungsgeld abgeholt. Meine Tochter wollte davon unbedingt weiße Tennissocken kaufen, mehr wollte sie nicht haben, sie hatte von unserer Westverwandtschaft schon viele Dinge bekommen. Wir anderen haben an diesem Tag gar nichts gekauft, wir haben das Geld erst einmal behalten.

 

Existenzängste hatte ich in der Zeit überhaupt nicht, da ich bei der Post angestellt war. Eine Post brauchen sie überall und immer, habe ich mir gesagt, und genau so war es dann ja auch.



Dass sich in der DDR etwas ändern würde, war meiner Meinung nach schon lange vor dem November 1989 abzusehen. Mit dem Einsatz von Waffen habe ich in diesem Zusammenhang nicht gerechnet. Ich bin von einer friedlichen Veränderung ausgegangen. Die entscheidende Rolle für den 9. November hat meines Erachtens nach Gorbatschow gespielt. Ohne ihn wäre die Entwicklung anders verlaufen. Wir haben ihm viel zu verdanken. An eine erneuerte DDR habe ich nicht geglaubt, ich habe eine Wiedervereinigung erwartet, zu der es dann ja auch bald gekommen ist. Heute geht es mir gut, ich bin mit der Wende und der nachfolgenden Entwicklung zufrieden.

 

Drei Punkte will ich noch ergänzen, auch wenn sie nicht unmittelbar mit dem 9. November zu tun haben:  

- Eine Verwandte im Westen hat mir bei einer Reise nach der Wende gesagt, das Dorfleben im Westen sei "gehässig". Sie hatte die Befürchtung, dass es auch bei uns so werden könnte, deshalb appellierte sie: Bleibt menschlich!

- Erstaunlich war für mich, dass ich schon vor 1989 wiederholt nach Westdeutschland reisen durfte, obwohl ich durch meine zeitweise Tätigkeit beim Spezialbau Eberswalde Geheimnisträgerin war. (Unterlagen vom Flugplatz Groß Dölln, von Vogelsang und Döllnkrug sind über meinen Tisch gegangen.) Warum die Stasi mir solche Fahrten nicht untersagt hat, habe ich bis heute nicht verstanden. Vielleicht hat die Überwachung und Kontrolle von uns DDR-Bürgern doch nicht ganz perfekt funktioniert.

- Und noch etwas: Als ich 1986 eine Cousine in Beckum in Westfalen besucht habe, sah ich die Aufschrift an einer Grundschule: "Helft den Kindern in der DDR, denn sie müssen hungern." Die Cousine hatte in der Schule bereits gesagt, dass das nicht stimmen würde, sie sei in der DDR gewesen und wisse, dass es anders sei. Worauf man ihr geantwortet hat, dann sei ihre dortige Verwandtschaft wohl sehr reich.

 


Veranstaltung zum 25. Jahrestag des Mauerfalls (2014)

Christina Steddin

Es war ein grauer Novembermorgen. Ich wachte auf mit dem guten Gefühl, endlich mal ausgeschlafen zu haben. Nächtelang hatte mich mein krankes Kind nicht schlafen lassen. So war ich am Vorabend ganz früh ins Bett gegangen, hatte mir die Decke über den Kopf gezogen und wollte nur noch schlafen. Mein Mann war früh am Morgen aufgestanden und mit seinem Diensttrabi zu den Kunden gefahren. So konnte ich in Ruhe aufstehen und mit dem Kind frühstücken und ein bisschen im Haus aufräumen. Gegen 10 Uhr zogen wir uns unsere Jacken an, um ein wenig spazieren zu gehen und bei der Gelegenheit auch eine Flasche frische Milch aus dem Konsum zu holen. Im Konsum und auf der Straße hörte ich Gesprächsfetzen, die ich nicht einordnen konnte. Was war denn nun schon wieder passiert? So ging ich nach Hause und machte als Erstes den Fernseher an. Ich glaubte meinen Ohren und Augen nicht. Am Vorabend war die Grenze geöffnet worden, und immer noch strömten  die Menschen über die Grenze, um einen Blick in den Westen zu riskieren. Am Abend kam mein Mann nach Hause, er hatte die Neuigkeit beim ersten Kunden erfahren. Wir haben sie im wahrsten Sinne des Wortes verschlafen, die Maueröffnung.

An einem Samstag in der Adventszeit sind wir dann zu zweit nach Westberlin gefahren. Wir sind nur mit dem Personalausweis rüber gegangen, ohne irgendwelche Genehmigungen geholt zu haben. Unseren Trabi haben wir im Osten geparkt, damit ihm nichts passieren kann. An der Grenze hatte ich ein mulmiges Gefühl, Erinnerungen an nervige Kontrollen bei Reisen nach Prag und Budapest kamen in mir hoch. Wir waren beide das erste Mal im Westen. Von unserem Begrüßungsgeld haben wir nur wenig ausgegeben. Ich erinnere mich, dass wir eine Packung Matchbox-Autos als Weihnachtsgeschenk für unseren Sohn gekauft haben. Der Tauschkurs auf dem Schwarzmarkt lag in der Zeit vor der Maueröffnung bei 10 Ostmark für 1 DM. Somit hatten wir mit 100 DM etwa den Lohn für 1 1/2 bis 2 Monate in den Händen. Ich hatte keine Ahnung, wie das alles weitergehen könnte. Die Ausreise über Ungarn oder die Deutsche Botschaft in Prag waren jetzt nicht mehr nötig. Als ich wieder arbeiten ging, war ich erstaunt, wie wenig Leute weg waren. Aber ich denke auch, dass sich alle sicher waren, dass die Grenze offen bleibt und dass man keine einmalige Gelegenheit zur Flucht nutzen musste.


Veranstaltung zum 20. Jahrestag des Mauerfalls (2009)

Marina Helmich

Der 9. November 1989 war ein Donnerstag, ich hatte bis 15.10 Uhr Unterricht und fuhr gleich im Anschluss zur Polizeimeldestelle in Zehdenick am Gericht, um mir dort einen Visastempel für die Einreise nach Westberlin zu holen. Als ich dort ankam, standen schon viele andere Bürger mit dem gleichen Anliegen im Karree rund um das gesamte Gebäude. Ich stand ca. sechs Stunden an, um den begehrten Stempel zu bekommen. Es war eisig kalt und dunkel, ein scharfer Wind wehte über den Heinrich-Mann-Platz, aber alle waren voller Vorfreude, und es ging sehr lustig zu. Als ich am späten Abend nach Hause kam, wollte ich nur noch ins Bett. Am nächsten Morgen hörte ich die tolle Nachricht überall, dass in der Nacht die Mauer gestürmt wurde. Mein Mann war in dieser Woche auf Dienstreise in Leipzig, hatte dort die Montagsdemo miterlebt und reiste Freitag früh in Berlin wieder an. In der S-Bahn hatte er eine Unterhaltung zwischen zwei Männern mitangehört. Der eine sagte: "Und jeeste heute uf Arbeit?" Der andere: "Biste verrückt, andere flanieren auf'n Kudamm und ick soll arbeiten jehn. Nö, uf keenen Fall." Überhaupt waren die Bahnen überfüllt, und alle Leute waren furchtbar aufgeregt. Er hatte dann auch schnell mitbekommen, was geschehen war.

Am Sonntag, den 12. November, war es dann für uns so weit. Unsere erste Einreise nach Westberlin. Zuerst fuhren wir mit der S-Bahn bis zum Alex. Dort war ein riesiger Menschenauflauf, um den Platz herum fuhren hupende Autokorsos, auf dem Platz hatten sich neben den vielen freudigen Menschen auch viele Sender und Organisationen versammelt, unter anderem auch unser Lieblingssender RIAS Berlin. Ich wurde vom dänischen Fernsehen angesprochen, ob sie mit mir ein Interview durchführen können. Dazu hatte ich einen Zettel mit den Fragen bekommen und sollte mich darauf vorbereiten. Von überall kam auch Musik, auch DT 64 war da. Die Kinder hatten an einem Stand jeder eine Dose Fanta Mango geschenkt bekommen. Meine Tochter (damals 12 Jahre alt) kann sich heute noch an das unvergleichliche Geschmackserlebnis erinnern. Das war für sie ein ganz neues Geschmackserlebnis. Die leere Dose wurde als Andenken noch über 10 Jahre aufbewahrt. Doch wir wollten natürlich auch das Begrüßungsgeld abholen und Westberlin kennenlernen, und aus diesem Grund konnte ich das Interview nicht mehr abwarten. Wir fuhren mit der S-Bahn bis Friedrichstraße und von da mit der U 6 Richtung Alt Mariendorf. Besser gesagt, wir stiegen in die erstbeste



Bahn Richtung Westen ein. Wir hatten absolut keinen Plan, und es gab nirgends mehr einen Stadtplan oder S- und U-Liniennetzplan. Das alles war nicht so einfach, denn es waren zigtausende Menschen unterwegs. Die Bahnhöfe und Bahnen waren gnadenlos überfüllt, und da war es bei einer Gruppe von vier Personen nicht einfach zusammenzubleiben. Für meinen Sohn (damals sechs Jahre alt) war das sicher eine Situation, die ihm Angst machte. Letztendlich sind wir Kaiserin-Augusta-Straße ausgestiegen. Wir fanden: Der Name hört sich so toll an, das muss eine ganz besondere Straße sein. Wir kamen zur Straße hoch und waren erstaunt, eigentlich war es schon dunkel, aber die Straße war hell erleuchtet und farbenfroh, und wir kamen aus der dunklen grauen Tristesse. Die Kinder waren davon auch sehr beeindruckt. Gottseidank war die Kaiserin-Augusta-Straße eine ruhige Straße. Wir holten unser Begrüßungsgeld und bestaunten die Auslagen in den Geschäften. Für meine Tochter waren die Kaugummiautomaten an jeder Ecke ein besonderes Highlight, das noch bis heute fest in ihrer Erinnerung eingegraben ist. Mein Mann dagegen hatte eine andere Schwäche: Erdnüsse mit Schale. Bei 

einem offenen türkischen Gemüsehändler hatte er diese Früchte entdeckt, und es gab kein Zurück mehr, er musste sie haben. Aber auch die Kinder waren in diesem Laden vollkommen überwältigt, sie sahen dort Obst und Gemüse, das sie noch nie gesehen hatten. Langsam schlenderten wir wieder zum U-Bahnhof , und die U-Bahn fuhr gerade los. Nun mussten wir 20 Minuten auf die nächste Bahn warten, und die Kinder befassten sich näher mit dem Bahnhofskiosk. Tcha, da gab es viele schöne Dinge, die sie aus der Fernsehwerbung kannten, und es gab wieder kein Zurück mehr. Wir kauften viele, viele bunte Smarties und diesen und jenen Riegel. Die Verkäuferin, eine besonders aufmerksame Person, gab mir zu verstehen, dass ich die Sachen in einem Lebensmittelladen viel günstiger kaufen könne, aber es war Sonntag, alle Läden waren geschlossen, und es gab auch keinen Aufschub mehr. So endete unser erster Ausflug nach Westberlin.

 

Am nächsten Samstag waren wir wieder in Berlin und besorgten uns zwei Mauerteile.


Veranstaltung zum 25. Jahrestag des Mauerfalls (2014)

Manfred Lentz

(Dieser Bericht stammt von einem "Wessi") Schade, dass Günter Schabowski seine Pressekonferenz nicht einen Tag früher abgehalten hat: Der 8. November 1989 war mein 40. Geburtstag - was für ein großartiges Geschenk wäre der Fall der Mauer gewesen! Aber die Pressekonferenz fand nun mal am 9. statt. Am Abend dieses Tages hatten wir einige meiner Kollegen zu Besuch, teils wegen eines Stammtischs, zu dem wir uns gelegentlich trafen, teils nachträglich wegen meines Geburtstags. Ich war damals in der politischen Bildungsarbeit tätig, und natürlich haben wir an diesem Abend, als alles im Fluss war, beinahe ausschließlich über die politische Lage gesprochen. Neben Bier und Häppchen lief der Fernseher. Mit der Zeit wurden die Gespräche immer weniger, dafür das Beobachten der Meldungen auf dem Fernseher immer intensiver. Dann kamen jene berühmten Sätze von Schabowski, die in den Medien inzwischen wohl Millionen mal wiederholt wurden. Die Kollegen waren bereits gegangen, als ich mich auf den Weg zur Grenze an der Invalidenstraße machte. Meine Frau konnte leider (und das mit 1000 Ausrufezeichen!) nicht mitkommen, da sie am nächsten Tag einen beruflichen Termin hatte. Als ich die Invalidenstraße erreichte, standen dort schon Hunderte West-Berliner vor dem Schlagbaum und riefen "Lasst uns rein!", während gleichzeitig von östlicher Seite die Rufe "Lasst uns raus!" zu uns herüberdrangen. Diese Situation 

währte mehr als eine Stunde. Ich stand dicht am Schlagbaum, die Grenzsoldaten vor uns waren absolut unsicher , wie sie sich verhalten sollen. Auf eine solche Situation waren sie schlichtweg nicht vorbereitet. Hatten wir Angst vor ihnen? Ich selbst nicht im geringsten, und ich bin überzeugt, den anderen West-Berlinern ging es genauso. Das dominierende Gefühl bei uns allen war die Erwartung, dass etwas ganz Großes, dass wir uns vor kurzem noch nicht hätten vorstellen können, unmittelbar bevorstand. Und dann ging der Schlagbaum auch tatsächlich hoch, geöffnet gemeinsam von den Grenzsoldaten und der Menge, die inzwischen beständig angewachsen war. Danach liefen wir alle gleichzeitig los - wir selbst von West- nach Ost-Berlin, die anderen vom Ostteil in den Westteil der Stadt. Alles vermischte sich in diesen Minuten, dazwischen standen völlig überrascht und desorientiert diejenigen, deren Aufgabe es üblicherweise war, die bis zu diesem Augenblick hermetisch abgesicherte Grenze notfalls mit der Waffe zu verteidigen.

 

Was dann geschah, war für mich ein einziger Traum. Zusammen mit etwa 300 anderen Personen lief ich bis zur Friedrichstraße, danach bogen wir in die Straße Unter den Linden ein und rannten auf  das Brandenburger Tor zu, auf dieses zentralste aller Symbole der deutschen Teilung. Vor dem Tor hatten sich Angehörige der  



Grenztruppen nebeneinander aufgestellt, jeder mit einer Maschinenpistole vor dem Bauch. Ich weiß noch sehr gut, dass auch diese Situation uns nicht die geringste Angst eingejagt hat. Ich war fest davon überzeugt (und die anderen offenbar auch), dass es zu keiner Gewaltanwendung gegen uns kommen würde (wobei das mit absoluter Gewissheit natürlich nicht auszuschließen war). Und tatsächlich machten die Soldaten uns Platz, nur an einige kann ich mich noch erinnern, die holten in einem hilflosen Versuch einen Wasserschlauch herbei, um uns "wegzuspritzen", doch gaben sie das ebenso schnell auch wieder auf. Bis die ersten von uns auf der Mauer standen, vergingen dann nur noch wenige Augenblicke. Ich selbst habe die Mauer in jener Nacht als einer der ersten erreicht, aber von der ganzen Gruppe war ich einer der letzten, der oben stand, und auch das erst, nachdem hilfreiche Hände mir hinaufgeholfen hatten. (Hätte ich doch nur mehr Sport getrieben und weniger gegessen ...) Aber trotz dieser Schwierigkeit stand ich schließlich auch oben. Auf der Mauer am Brandenburger Tor - was für ein unbeschreibliches Gefühl!!! Noch heute, da ich diese Zeilen schreibe, bekomme ich eine Gänsehaut!

 

Die Tage danach waren wie ein Rausch. Kurz geschlafen, dann wieder auf die Straße, um mitzuerleben, was alles geschah. Tausend Eindrücke! Dann ein Jahr später stand ich auf dem Platz der Republik

vor dem Reichstag, die deutsche Fahne wurde aufgezogen am Mast, und wieder bekam ich eine Gänsehaut!

 

Was für mich negativ war bei diesen Vorgängen: Als einer der wenigen auf westlicher Seite habe ich als Folge dieser Ereignisse meinen Job verloren. Als Politologe hatte ich in unzähligen Seminaren und in Rundfunksendungen Menschen aus dem Westen erklärt, wie die DDR funktioniert, doch jetzt gab es plötzlich keine DDR mehr. Womit ich Pech gehabt habe, obwohl ich die Wende immer als einen Glücksfall empfand, denn jetzt konnte zusammenwachsen, was nach meiner festen Überzeugung zusammen gehört. Die Bilanz dieser Wiedervereinigung empfinde ich als gut - nicht perfekt, dazu gab und gibt es noch immer zu viele Probleme, aber gut. Meine tiefempfundene Bewunderung gilt jenen Bürgern der ehemaligen DDR, die auf friedlichem Weg dieses Ergebnis erzielt haben. Ihrem Mut habe ich es zu verdanken, dass ich heute (neben einem Wohnsitz auch weiter in Berlin) in Kurtschlag leben kann, woher ein Teil meiner Familie stammt. Für all das steht der 9. November für mich. Ein Ereignis, dass sich so wunderbar in dem einen Wort zusammenfassen lässt, das mir und Millionen anderen Menschen geradezu automatisch über die Zunge kommt, wenn sie an dieses Ereignis denken: Wahnsinn!!


Veranstaltung zum 20. Jahrestag des Mauerfalls (2009)

Sandra Keskowski

Wir hatten damals eine Familienfeier und waren gerade beim Aufräumen, der Fernseher lief ohne Ton, und plötzlich waren da so merkwürdige Bilder mit jubelnden Menschen vor Schlagbäumen zu sehen. Was war da los? Ich drehte den Ton an und setzte mich hin, begriff gar nicht, was da gerade passierte. Ob auf ARD oder ZDF, immer wieder war eine Pressekonferenz zu sehen. Herrn Schabowski wurde ein Zettel gereicht, und auf die Frage eines Journalisten: "Ab wann gilt denn nun das neue Reisegesetz?" antwortete der Genosse irritiert: "Nach meiner Kenntnis ab sofort ..." Dann wieder die Bilder vom Grenzübergang Bornholmer Brücke, eine Menschenmenge, die hinüber in den Westen wollte. Bis dann schließlich der Schlagbaum hochging. (Vieles war vorher schon passiert bzw. hatte ich gehört. Als ich im August 1989 im Ferienlager war, hörten wir die Erzieher immer öfter darüber reden, dass schon wieder welche - wohl Bekannte von ihnen - über Ungarn geflohen seien. Um den Flughafen Schönefeld gab es vermehrt zurückgelassene Autos und ausgesetzte Tiere. Im September wurden die Botschaften der BRD in Prag und Warschau von Flüchtlingen besetzt.)

 

Ab diesem Zeitpunkt war dann alles anders. Die Ereignisse überschlugen sich. Jeden Tag gab es andere Neuigkeiten, und in der 

Schule wurde tags das diskutiert, was man am Abend davor im Fernsehen oder von anderen Leuten erfahren hatte. Unterricht fand quasi in den ersten Monaten nach dem Mauerfall nur noch sporadisch statt, denn auch die Lehrer waren oft unsicher, wie es jetzt weitergehen würde. Selbstverständlich fuhren auch wir etwa eine Woche nach dem Mauerfall nach Westberlin. Wir standen am Grenzübergang Sonnenallee an NVA-Lastwagen an, um Visa in unsere Ausweise zu bekommen. Das war schon ein komisches Gefühl. Als wir  aber dann drüben waren, fühlten wir uns irgendwie befreit. Aber was nun? Wohin? Also fuhren wir mit dem für uns kostenlosen ÖPNV quer durch Westberlin und staunten und feierten mit den nun ebenfalls befreiten Westberlinern. Die waren ja ebenfalls über Jahrzehnte eingemauert gewesen.

 

Vom Begrüßungsgeld über 100 DM für jeden DDR-Bürger erfuhren wir erst später. Das holten wir uns bei unserem zweiten Besuch im Westen ab, nämlich im Schöneberger Rathaus. Wo wir über Stunden die gewendelte Treppe hoch anstanden, es gab dort auf jeder Etage kostenlose Verpflegung insbesondere für die Kinder. Dieses Rathaus war uns schon vorher ein Begriff, denn damals war jeden Sonntag um 12 Uhr die dort hängende Freiheitsglocke auf dem Radiosender RIAS 



zusammen mit dem Freiheitsschwur zu hören: "Ich glaube an die Unantastbarkeit und an die Würde jedes einzelnen Menschen. Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde. Ich verspreche, jedem Angriff auf die Freiheit und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo auch immer sie auftreten mögen." Noch heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich daran denke, welche Bedeutung diese Worte einmal für uns haben würden.

 

Ich kann mich auch erinnern, dass ich mit meiner Familie an einer Menschenkette zum friedlichen Protest entlang der heutigen B109 

zwischen Zehdenick und Templin teilgenommen habe. Das muss im November oder Dezember 1989 gewesen sein. Es war damals kaltes und trübes Wetter, aber alle Menschen dort hatten ausnehmend gute Laune, und es herrschte eine positive Aufbruchstimmung. Für mich als Teenager war diese Zeit sehr aufregend, ich genoss sie und machte Zukunftspläne, wie jeder andere in dem Alter sie auch macht. Wie und ob es mit der DDR weitergehen würde, war für mich damals kein Thema. Dafür passierte täglich zu viel Aufregendes. Für meine Person kann ich nur sagen, dass ich dafür dankbar bin, dass alles damals so friedlich verlaufen ist. Wir hatten eine Menge Glück


Veranstaltung zum 25. Jahrestag des Mauerfalls (2014)

Adeline Jaekel

Es war ein Arbeitstag wie jeder andere. Ich hatte Spätschicht und erledigte meine Arbeitsaufgaben. Im Hintergrund spielte leise Musik. Plötzlich wurde die Musik unterbrochen. Es wurde gesagt, dass die Mauer an der Glienicker Brücke offen ist. Ich konnte es gar nicht glauben und erzählte es meinen Kollegen. Die Freude war riesengroß, denn wir hatten viele liebe Verwandte in Westberlin.

 

Gleichzeitig stellte ich mir viele Fragen. Wie wird es weitergehen? Wir hatten zu der Zeit ein Visum zur Ausreise nach Westberlin zum 80. Geburtstag der Tante vom 16.-18.11.89 beantragt. Einen Tag vor dem Reisetermin konnten wir uns den Pass mit Visum abholen. Die Reise war sehr schön, aber auch sehr spannend. Zum Preisvergleichen habe ich alles in Kaffee umgerechnet, da er bei uns ja sehr teuer war. 

 Wann ich das Begrüßungsgeld abgeholt habe, weiß ich nicht mehr, nur dass ich es nicht gleich ausgegeben habe, sondern festgehalten.

 

Später tauchten dann viele Fragen im Betrieb auf. Wie wird es weitergehen? Zuerst wurden wir beruhigt. Es wird schon weitergehen, denn der Betrieb hatte Verträge mit Westunternehmen. Als wir dann aber Kolleginnen und Kollegen mit 55 Jahren in den Vorruhestand entlassen mussten, wusste ich, dass es mit unserer Abteilung zu Ende geht. Seitdem ist viel geschehen, zum Guten und zum Schlechten. Herr Kohl hatte uns in zwei Jahren blühende Landschaften versprochen. Das hat leider etwas länger gedauert.



Helmut Schöttler

Von der Maueröffnung habe ich erst am 10. November erfahren. Die politische Situation war im Herbst '89 sehr aufregend, spannend, gefährlich, beängstigend und schizophren zugleich. Wir hofften, ermutigt durch Gorbatschows Öffnung mit Glasnost und Perestroika, auf positive Veränderungen auch in der DDR. Die Stagnation in allen Lebensbereichen wurde immer gravierender und unerträglicher. Die Fluchtbewegungen über Ungarn und die Besetzungen der Botschaften in Prag und Warschau waren eine Auswirkung dieser Stagnation. Der staatliche Propagandaapparat wurde noch aggressiver und die Drohungen deutlicher. Jede noch so kleine Kritik wurde als subversive, volksfeindliche Intrige gebrandmarkt. Die SED reagierte mit Härte und Verschärfung der drakonischen Maßnahmen gegen jede andere Meinung. Die Beglückwünschung von Egon Krenz zu dem Massenmord auf dem Platz des himmlischen Friedens in China war im Gedächtnis. Ich empfand dies als unerträglichen Zynismus. Diese Gefahr, so hatte ich das Empfinden, bestand auch für uns. Der Spielraum, zu Widersprüchen Stellung zu nehmen, wurde immer kleiner. Die Reformen in der SU wurden verunglimpft und beschimpft. Ein Einwohner aus unserem Dorf bezeichnete Gorbatschow als Verbrecher. Sogar die sowjetische Zeitschrift

"Sputnik" wurde verboten. Honeckers Aussage "Die Mauer steht noch in 100 Jahren" war für mich ein Tiefschlag und extrem deprimierend. Jede Kritik an der SED und am System wurde bestraft. Wir erfuhren, dass Konzentrationslager in den Kreisen geplant wurden. Im Kreis Templin war das Woroschilowlager am Röddelinsee dafür vorbereitet worden, um bis zu 2.000 Menschen zu inhaftieren.

 

Am 6. und 7. Oktober 1989 war ich zu einer Besuchsreise in Schleswig-Holstein. Die Aufgeschlossenheit und Offenheit der Menschen dort waren beeindruckend. Die Berichte im Fernsehen waren für mich besonders beängstigend. Mir ging die chinesische Lösung nicht aus dem Kopf, die die SED für die DDR plante. Denn die Reden im Fernsehen und den Zeitungen zeugten von Hass und Hetze gegen das eigene Volk.

 

In den Herbstferien 1989 planten wir eine Reise in die CSSR (Hohe Tatra). Wenige Wochen vor unserem Reisetermin wurden Auslandsreisen verboten. Wir wagten zu widersprechen und bekräftigten mit einer Einladung der Gastgeber unsere Reiseabsicht in die CSSR. In der staatlichen Hierarchie lief es teilweise  



widersprüchlich, so dass wir nach langer Wartezeit am Abend vor dem Reisetag gegen 18 Uhr eine Reiseerlaubnis bekamen. Diese bestand darin, dass im Personalausweis ein Visum eingetragen wurde. Am folgenden Tag waren wir morgens um 6 Uhr am Grenzübergang Seifennersdorf. Dort angekommen, war der Grenzübergang geschlossen. Ein Grenzoffizier trat in extrem abweisender Haltung (ein Bild wie ein SS-Kettenhund im Nazideutschland) auf uns zu und wies uns sehr barsch auf das Verbot zum Grenzübertritt hin. Meinen Hinweis auf das Visum im Personalausweis kontrollierte er sichtlich schockiert und verärgert. In der Hohen Tatra erfuhren wir von der Ablösung Honeckers durch Egon Krenz. Meine Bemerkung "Der grinsende Idiot" sorgte für mein Erschrecken, vielleicht hatte ein "Gummiohr" zugehört.

 

Wieder zu Hause angekommen, erfuhren wir von den Friedensgebeten in der Templiner Kirche, wo die Stasi den ca. 500 anwesenden Menschen das Betreten der Kirche verbot. Am nächsten Montag waren wir ca. 5.000 Menschen, um unseren Unmut gegen die Repressalien der Stasi und den staatlichen Machtapparat zu demonstrieren. Besonders in Erinnerung blieb die Betonung der Gewaltfreiheit . Wir waren uns bewusst, dass jeder Übergriff ein   

willkommener Anlass für die Staatsmacht wäre, um Waffengewalt anzuwenden. Die Gewaltfreiheit hatte höchste Priorität. Die Bevormundung und Unterdrückung durch die SED, die sich immer im Recht sah, war unerträglich. Auch in Zehdenick trafen wir uns, viele hundert Frauen und Männer in und an der Kirche. Wir diskutierten und äußerten unseren Unmut. Die Angst war immer zugegen, denn die Stasi war immer und überall dabei. Die Menschen wurden trotz aller Gefahr mutiger und sprachen über die Willkür und das Unrecht. Die Aussage einer Kollegin (Lehrerin aus Kurtschlag): "Ich bin Mitglied der SED, und ich schäme mich dafür, dass ich jahrelang diesen Staat verteidigt habe." Heute mag uns dieses Bekenntnis nicht viel bedeuten, damals gehörte dazu sehr großer Mut. Den Beweis dafür erfuhr ich am 29. Juli 2014 in Gransee in einer öffentlichen Veranstaltung über die Arbeitsweise der Stasi im Altkreis Gransee, wo unter vielen anderen diese Aussage vorgelesen wurde. Zu der Zeit, im November 1989, konnten wir nicht wissen, dass die russische Armee nicht eingreift. Mir war immer noch der 17. Juni 1953 im Gedächtnis.

 

Anfang November 1989 waren mein Sohn, seine Freundin und mein Neffe aus Hammelspring zur Demonstration in Berlin. Das Auto stellten sie in der Nähe des S-Bahnhofs Prenzlauer Allee ab. Von dort  



gingen sie zu Fuß Richtung Alexanderplatz. Sehr viele Menschen waren mit dem gleichen Ziel unterwegs. Es wurde sehr viel fotografiert und oft sicher von der Stasi. Wir gingen (sagten sie) mit Mut und Angst zugleich, denn wir waren uns der Gefahr bewusst, dass eine spätere Bestrafung vorgesehen und geplant war. Wir wollten jedoch nicht untätig sein und alles weiter so ertragen.

 

Die folgenden Wochen im November und Dezember brachten jeden Tag neue Aufregungen und Versuche, das repressive DDR-System zu reparieren und wieder zu festigen. Auch die Umbenennung der Stasi in Nasi gehörte dazu. Diese Umbenennung sollte uns suggerieren, dass diese Einrichtung sich nun um die nationale Sicherheit kümmert, jedoch ohne das Personal oder die Struktur zu ändern. Die Kampagne "Für unser Land" war von einigen Initiatoren sicher gut gemeint, es hörte sich auch gut an, aber die Skepsis überwog. Die Vertreter der Staatsmacht des real existierenden Sozialismus schlossen sich diesem Aufruf an, damit wurde deutlich, dass der "Zug" umgeleitet werden sollte, ich fürchtete in die vorbereiteten Internierungslager. Teilweise ist versucht worden, den Demonstranten Überfälle auf die Sowjetarmee anzudichten. Die 

Verursacher solcher Anschuldigungen wollten die Russen zum Eingreifen nötigen, so vermute ich. Zu den Russen in unserer Nähe hatten wir ein gutes Verhältnis. Persönliche Kontakte gab es nur wenige, denn die russische Militärdoktrin hat diese weitgehend unterbunden. Vereinzelt gab es doch persönliche Kontakte, worüber jedoch nicht gesprochen wurde. Bei Bekanntwerden solcher Kontakte erfolgte eine sofortige Strafversetzung der Russen. In einer Unterhaltung mit einem russischen Fliegeroffizier wurde mir deutlich, dass die Russen nichts über die Situation in der DDR wussten. Auch über die Bundesrepublik war das Wissen erschreckend gering und entsprach den Zeitungsüberschriften des ND ("Neues Deutschland"). Der Offizier versuchte mir zu erklären, dass die Nazis in Westdeutschland und die amerikanischen Imperialisten den Überfall auf uns planten. Ich hatte den Eindruck, dass er glaubte, was er sagte. Meine Gelassenheit schien ihm unverständlich und beunruhigte ihn zusätzlich. Offensichtlich nahm er die sozialistische Propaganda wörtlich. In einer anderen Unterhaltung mit einem russischen Offizier (nach meiner Erinnerung im Jahr 1990) wurde deutlich, dass die Armeeangehörigen der Sowjetarmee keine Kenntnis über die Abrüstung in der Bundesrepublik hatten. Sie  



glaubten immer noch daran, dass der Überfall der Nazis und der imperialistischen Nato bevorstehe.

 

Selbst bei uns im Dorf hatten einfache Mitglieder der SED teilweise Probleme, die Wirklichkeit zu erkennen. In einem Gespräch über die Situation in der SU wurden Stalin und seine Verbrechen in der SU benannt. Stalins "große" Leistungen wurden gelobt, und er verniedlichte einzelne Vorkommnisse. Auch hier hatte ich den Eindruck, dass der Sprecher daran glaubte. Das DDR-System war nach seinem Verständnis eine sozialistische Demokratie, die in der Folge durch bürgerliche Demokratie ersetzt werden sollte. Was jedoch der Inhalt einer Demokratie ist mit seinem Potential und auch deren Probleme, sind solchen Sichtweisen fremd und nebensächlich. Aus heutiger Sicht müssen wir erkennen, dass solche Sichtweisen nach großen Umbrüchen keine Seltenheit sind. Das war und ist so bei der Naziideologie und nicht anders bei der DDR-Sicht mit ihrer Ideologie des realen Sozialismus.

 

Im Januar und Februar 1990 bemühten wir uns um die Gründung eines Ortsvereins der SPD in Kurtschlag. Nach mehreren Gesprächen 

half uns Pfarrer Kassner aus Templin (Angela Merkels Vater) bei der Gründung des Ortsvereins. Aber auch im Februar und März 1990 begleitete uns noch die Angst. Ein Stasimann aus Gransee sagte: "Euch kriegen wir noch alle. Ihr müsst nicht denken, dass das schon alles war. Wir wissen alles und vergessen nichts." Wir sahen diese Drohung auch als große Gefahr für Leib und Leben.

 

Nach den ersten freien Wahlen im März legte sich unsere Angst ein wenig, obgleich bei Reisen, besonders in den Westen, beim Grenzübertritt immer noch Beklemmungen auftraten, denn die Repressionen wirkten im Gedächtnis noch lange nach.

 

Nachbetrachtung aus heutiger Sicht: Voraussetzungen für eine sichere Zukunft sind banale, aber extrem wichtige Dinge wie:

- freie und geheime Wahlen

- unabhängige Gerichte

- eine freie Presse

- Das Zusammenwachsen der europäischen Länder ist Friedenssicherung.

- Der Klimawandel und die Migration sind nicht national lösbar. 



- Die eigene aktive Auseinandersetzung mit der Politik ist zugleich Voraussetzung für das Verstehen und das Funktionieren der Demokratie.

 

In den neuen Bundesländern ist die politische und gesellschaftliche Situation wesentlich schwieriger als in den alten Bundesländern. Dies hat sowohl wirtschaftliche als auch historische Gründe. Die wirtschaftlichen Gründe sind höhere Arbeitslosigkeit, geringere Löhne, längere Arbeitszeiten, schlechtere Infrastruktur, geringeres Rentenniveau, geringere Anerkennung. Diese Nachteile einseitig zu betrachten ist ein großer Fehler, denn hätten wir noch DDR-Verhältnisse, könnten wir von den derzeitigen Lebensbedingungen nur träumen. Darüber zu sprechen, wäre aus DDR-Sicht strafbar gewesen.

 

Die historischen Gründe liegen ganz wesentlich in der 40 Jahre länger währenden Diktaturerfahrung. Die Lebenserfahrung von uns Ostdeutschen beruht darauf, dass wir in dieser Zeit keine Gestaltungsmöglichkeiten hatten, sondern alles von oben 

entschieden wurde. Kritik war ausgeschlossen in der sogenannten "Diktatur des Proletariats" oder der "sozialistischen Demokratie". Das Proletariat hatte zu tun, was die Partei vorgab, damit blieb allein die Diktatur, die wir widerspruchslos hinzunehmen hatten. Argumente wie "Es war nicht alles schlecht" oder "Heute ist auch nicht alles Gold, was glänzt" sind richtig, verkennen jedoch die Wirklichkeit. Eine demokratische Gesellschaftsordnung erhebt auch keinen Anspruch auf Vollkommenheit. Ein Schlaraffenland muss ein Land der Fantasie bleiben. In wirklich demokratischen Verhältnissen mit allem "Für" und "Wider" entwickeln viele Menschen bei uns Frust, den sie entladen wollen. Demokratie ist eben nicht einfach, und deshalb sind langwierige, gründliche, teilweise widersprüchliche Ansichten zu diskutieren. Eine Diktatur hat es dagegen einfach, denn "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns". Nach meiner Einschätzung ist dies der Hauptgrund, dass viele Menschen auf die Parolen der AfD hereinfallen, denn deren Ideologie ist einfach. Nach außen werden wohlklingende Parolen genannt, deren Verwirklichung ist jedoch weder beabsichtigt noch im Plan. 

 


Veranstaltung zum 20. Jahrestag des Mauerfalls (2009)

Ingrid und Jürgen

Auch unser Sohn war Anfang November 1989 nicht mehr davon abzuhalten, mit Frau und halbjährigem Kind den Weg nach Westdeutschland über die Tschechoslowakei zu wählen. Vorausgegangen war schon ein Besuch bei unseren Prager Freunden. Hier hatten sie sich auch ein Bild gemacht am Zaun der Prager Botschaft. Am 8. November trafen wir uns zum Abschied, zur Trennung voraussichtlich für Jahrzehnte, ein schwerer Abschied.

 

Die Folgende Nacht und der Tag danach waren schrecklich, an Schlaf und an Arbeiten war nicht zu denken. Dann kam um 19 Uhr die unerwartete Nachricht vom neuen Reisegesetz der DDR und seiner sofortigen Wirksamkeit! Also am nächsten Morgen sofort zur Polizei, um ein Visum zu beantragen, dann können wir unsere Kinder wieder besuchen. Eine Stunde später klingelte das Telefon, und unser Sohn meldete sich nicht aus dem Westen, sondern von zuhause. Wir waren ganz erstaunt, denn eigentlich wollten sie ja schon weg sein, aber sie hatten es an dem Tag nicht geschafft und wollten nun am nächsten Tag fahren. Da sie in der Nähe der Bornholmer Brücke wohnten, wollten sie nun mal sehen, was sich dort tat. Wir beide gehen erlöst schlafen, stellen den Wecker, damit wir frühzeitig an der Polizei-Inspektion einen guten Platz in der Schlange bekommen zum 

Beantragen des Visums. Am nächsten Morgen: Himmel und Menschen vor der Polizei. Das Warten hat sich gelohnt, Gebühren bezahlt, Stempel in den Personalausweis bekommen und überglücklich darüber, dass es keine Trennung mehr geben wird. Im Betrieb arbeitet kaum einer, man spricht über die Reiseerleichterungen und schmiedet Pläne und kann ja in den nächsten Tagen auch noch ohne Visum nach West-Berlin fahren. 

 

Am Abend wieder ein Anruf unseres Sohnes, er fragte nach, ob wir auch im Westen waren. Sie hatten versucht, uns vom Kudamm anzurufen, aber bei uns ist keiner ans Telefon gegangen. Wir hatten aber fest geschlafen und kein Klingeln gehört. Sie waren bei den Ersten an der Bornholmer Brücke; wäre ein bisschen kritisch gewesen, als sich eine immer größer werdende Menschenmenge vor dem noch geschlossenen Übergang bildete. Aber alle waren sehr diszipliniert, und plötzlich ging das Tor auf!

 

Nun ist es seit 30 Jahren Normalität: Wir können, so oft wir wollen, uns sprechen, sehen, besuchen. Damit diese nicht wieder verloren geht, wollen wir uns erinnern an die Zeit davor.


Veranstaltung zum 25. Jahrestag des Mauerfalls (2014)

Dagmar Feuerhelm

Ich erinnere mich daran, dass mein Cousin aus dem Westen in Kurtschlag zu Besuch war. Wir saßen auf dem Sofa und schauten Nachrichten im Fernsehen. Da war zu sehen, dass die Stimmungen sich immer mehr aufheizten und Menschen ihren Unmut über die Verhältnisse in der DDR zum Ausdruck brachten. Ich sagte zu meinem Cousin, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Grenze sich durch den starken Protest öffnen würde. Er sah das nicht so, und ich sagte: Bestimmt, du wirst sehen!! Er reiste wieder ab und bald danach kam es, wie es kommen musste! Der Jubel war überall groß, und die Menschen lagen sich in den Armen. So war es im Fernsehen zu sehen. Die Zeitungen und das Radio voller Euphorie!! OK, dachte ich, irgendwie habe ich immer daran geglaubt, dass es so, wie es war, auf Dauer nicht weitergehen würde! Die Menschen waren sehr mutig, und es hat geklappt!! Eine friedliche Revolution!!!

 

Ja, und nun? Auf der Arbeit ging es in Kurzarbeit. Ängste machten sich bei mir breit! Wie soll es weitergehen?? Was wird mit der Arbeit? Wird unser Geld zum Leben reichen? Ich muss was tun!!! Es ging mit meiner Arbeit zu Ende, das Werk für Fernsehelektronik in Groß Dölln wurde geschlossen. In der Zeitung eine Anzeige, Umschung zur 

Einzelhandelskauffrau an der AWT in Zehdenick. Ich fragte meine Nachbarin, die auch neue Orientierung suchte, ob wir gemeinsam umschulen wollten. Sie sagte zu, und wir marschierten zum Arbeitsamt Gransee. Von dort schickte man uns direkt zur AWT für ein Vorstellungsgespräch. Nach kurzer Zeit kam ein positiver Bescheid. Los ging es mit der Schule für Betriebswirtschaft im Einzelhandel. Ich war sehr dankbar für die viele Bildung und konnte nach zweieinhalb Jahren meinen IHK-Abschluss erfolgreich in Empfang nehmen. 11 Jahre arbeitete ich in einem Geschäft für Schuh- und Lederwaren. Diese Zeit hat mich sehr geprägt, und ich konnte meine Persönlichkeit im Umgang mit guten Kollegen, Chefin und Kundschaft super entwickeln. Da war ich gerade 30 Jahre alt.

 

Ach ja, das Begrüßungsgeld! Wir freuten uns natürlich in meiner Familie darüber sehr, wollten uns einen Kassettenrekorder dafür kaufen. Was wir auch gemacht haben! Mit Mann und Maus ging es los. Schallplatten, Kassettenrekorder, Kassetten und dicke Schaumküsse voller Freude eingekauft. Die Straßen und die Läden waren voller Menschen. Alle waren gut gelaunt und ohne Ende neugierig, alles hat so toll gerochen. Unser Marcus trällerte ein Liedchen, er hatte ein 



kleines Kuscheltier mit Minirucksack. Dort steckte ein freundlicher Mensch, der unsere gute Laune beobachtet hatte, eine Mark in diesen Minirucksack! Wir staunten und bedankten uns.

 

Reisepläne nach Frankreich wurden geschmiedet! Dort lebte meine Schwester seit kurzer Zeit, sie hatte sich in einen Franzosen verliebt, und ihr erster Sohn ist im Mai 1990 geboren. Also sind wir los. Für die Bahnfahrkarten noch die Ostmark zusammengekratzt, gleich die Hin- und die Rückreise gebucht. Die Reise machten wir im Sommer 1990, da gab es im Juli dann die Umstellung von der Ost- auf die Westmark, wenn ich mich richtig erinnere. Los ging es von Berlin. Über Nacht, es war eine gute Verbindung. Alles war super aufregend. Zum Schluss kurz vor dem Ziel in Nancy noch ein Stück mit dem ICE. Es war sehr warm, und der ICE war mit Klimaanlage, das war auch was Neues für uns. Am Bahnhof angekommen, begrüßte uns mein Schwager. Wir waren glücklich, da zu sein. In der Wohnung im 10. Stock erwarteten uns meine Schwester und das Baby! Ich war überglücklich und heulte erst mal los. Wir hatten eine lustige Zeit und machten am 

Küchentisch mit weit offenem Fenster richtig viel Rabatz! In Frankreich großer Supermarkt, Schwimmhalle, Parkanlagen, Restaurant, die fremde Sprache! Alles neu und spannend! Das nächste Mal fuhren wir mit unserem ersten Westauto, einem Renault 19, zu meiner Schwester. 

 

Ja, so war das für mich in dieser Zeit. Ich hoffe, Ihr hattet alle Spaß beim Lesen!! Ich wünsche allen ganz viel Glück und Gesundheit für die nächsten Jahre!!

 

Liebe Grüße von Dagmar!!

 

P.S. Nach dreißig Jahren hat sich mein Cousin jetzt wieder bei mir gemeldet.


Veranstaltung zum 20. Jahrestag des Mauerfalls (2009)

Axel Kulicke

Es ist ja schon einige Zeit verstrichen, jedoch erinnert man sich an so einen besonderen Tag wohl besonders genau. In der Nacht vom 9. zum 10. November kam ich gegen 4 Uhr früh von einer Veranstaltung nach Hause und wunderte mich, dass das Haus noch hell erleuchtet war und meine Frau mich hellwach mit den Worten begrüßte: "Die Mauer ist auf!" Ich war zwar nicht mehr großartig zu Späßen aufgelegt, wollte nur noch duschen und ins Bett, jedoch der laufende Fernseher und die aufgeregte Stimmung ließen sofort die Müdigkeit verschwinden. Stattdessen blieb mir wohl die Kinnlade offen, und obwohl noch ein wenig ungläubig, musste ich eingestehen, dass sie wohl recht hatte. Nach dem Aufwachen jedoch zweifelte ich zunächst wieder daran und musste erneut den Fernseher bemühen, um mich von der Realität zu überzeugen. 

 

Die erste Reise zum Klassenfeind unternahmen wir einige Tage später nach Westberlin. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich beim Abstempeln meines Ausweises an der Wollankstraße ein wenig Bedenken hatte, dass man uns nicht wieder einreisen lässt. Dieser Gedanke ließ mich auch während der Stunden im anderen Teil der Stadt nicht mehr los. Jedoch diese Grenze einmal zu überschreiten - 

das war ein Gefühl, das man schlecht beschreiben kann. Der erste Aufenthalt war nur wenig spektakulär, wir hasteten über den Kudamm, bestaunten viele Schaufenster und schlossen mit einem Besuch am Bahnhof Zoo ab, um uns über den Umtauschkurs zu informieren. Diesen Tipp haben wir von anderen DDR-Bürgern in Westberlin bekommen und auch den Hinweis, dass man teilweise zu einem "guten Kurs" die DDR-Mark umtauschen kann. Erstmals machten wir die Erfahrung, wie Marktwirtschaft funktioniert. Die fliegenden Geldwechsler boten Umtauschkurse zwischen 6:1 und 7:1 an und hatten unvorstellbare Stapel DDR-Scheine in den Taschen. Bis heute ist mir rätselhaft, wo sie dieses Geld gewinnbringend loswurden oder ob es sich nur um eine Form von Geldwäsche handelte. Auf das Begrüßungsgeld haben wir zunächst verzichtet, weil wir uns nicht in die langen Menschenschlangen einfügen wollten, und irgendwie fanden wir es auch ein wenig peinlich, als Bittsteller aufzutreten. Wir haben aber auch erfahren können und nicht vergessen, dass man einen Ostmenschen fast überall gern zu einem Kaffee oder einem Getränk einlud und auch anderweitig großzügig reagierte. Die Westberliner hatten scheinbar schon von weitem das Gespür, wer von drüben kam (wohl auch wegen der DDR- 



"stonewashed"-Jeans, die viele trugen). Zu diesem Zeitpunkt stand es für mich fest, das ist ein Ausnahmezustand, und es wird nicht so bleiben. Meine Erwartungen gingen dahin, dass die DDR in wirklich demokratischer Form weiterexistieren würde und sich die Beziehungen zum Westen in geregelten und menschlichen Verhältnissen gestalten lassen. An eine Wiedervereinigung habe ich weder gedacht noch geglaubt. Mir schien die DDR reformierbar zu einer echten Demokratie und der Weg zu einer Wiedervereinigung nur sehr langfristig realisierbar. In diesem Zusammenhang habe ich auch erwartet, dass die Mauer wieder geschlossen wird, jedoch durch vereinfachte Reisemöglichkeiten erträglich gestaltet. Heute glaube ich, dass für nachfolgende Generationen ein vereintes Deutschland besser ist, auch wenn es teilweise sehr schmerzhaft war und vielleicht noch ist. Um so mehr sollten wir daran denken, dass wir nur dieses eine Deutschland haben.

 

Vielleicht noch schnell eine kleine Begebenheit, die zum Schmunzeln anregt. In der Folgezeit sind meine Gattin und ich des öfteren mit einer geliehenen Karte in die "Metro" in Spandau einkaufen gefahren. Wir hatten um diese Zeit irgendwann in Kurtschlag einen jungen 

russischen Offizier vom Flugplatz kennengelernt, der uns auch seine Frau vorstellte, die erst vor kurzer Zeit aus der tiefsten Sowjetunion hier angekommen war und in Vogelsang als Lehrerin arbeiten sollte. Eine gebildete und sehr selbstbewusste Frau. Er bat uns, doch seine Frau einmal nach Westberlin mitzunehmen, und da man in dieser Zeit kaum noch Ausweise kontrollierte, sondern nur noch durchwinkte, willigten wir ein. Schon auf dem riesigen Parkplatz der "Metro" sah man, dass sie die Menge der Autos sehr beeindruckte und sie immer stiller wurde. Kaum mit dem Wagen im Gebäude, machte sie noch einen großen ungläubigen Rundumblick und fiel dann in Ohnmacht. Es dauerte einige Minuten, bis sie trotz Hilfe wieder bei Bewusstsein war und teilte uns dann mit, dass das Angebot und der Überfluss schier unglaublich und unfassbar sind und ihr Vorstellungsvermögen überschritten haben. Das ist durchaus nachvollziehbar, wenn ich daran denke, dass auch uns manchmal der Atem stockte, als wir erstmals die Auswahl in den westlichen Kaufhäusern sahen, und für Menschen aus der damaligen Sowjetunion war ja die DDR damals schon das Land des Überflusses.


Veranstaltung zum 25. Jahrestag des Mauerfalls (2014)