Der jüdische Friedhof in Zehdenick

Ein Satz, den jeder kennt: "Das müssen wir uns irgendwann mal ansehen." Irgendwann - ein fatales Wörtchen, denn nur allzu oft heißt das: Daraus wird nichts. Kürzlich indes war es anders. Kürzlich haben Karin und ich Nägel mit Köpfen gemacht und den jüdischen Friedhof in Zehdenick tatsächlich besucht. Er liegt wenige Schritte östlich der Friedrich-Engels-Straße in Höhe der Marienstraße, dort, wo ein Schild auf ihn aufmerksam macht. Und um unser Fazit vorwegzunehmen - es war ein Besuch, der sich gelohnt hat.

 

Zunächst einige Fakten: Juden gibt es in Zehdenick seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, seit die gesamte jüdische Bevölkerung Wiens ihre Stadt verlassen musste und der preußische König Friedrich Wilhelm einige von ihnen in sein Land holte. Nicht aus Nächstenliebe, sondern weil sie zur Entwicklung seines damals noch recht rückständigen Landes beitragen sollten. Was sie auch taten. Kaufleute waren unter ihnen, die mit Gold und Silber handelten, mit Holz, Dünger und Federbetten, in späteren Jahren gab es einen jüdischen Ziegelei- und Kaufhausbesitzer, einen jüdischen Gemeinderat und einen Stadtvorsteher. Aber natürlich waren auch  


Arme unter den Juden, deren Situation sich von der anderer armer Einwohner der Stadt nicht unterschied. Ein paar Dutzend Juden lebten am Anfang in Zehdenick, 150 Jahre später belief sich ihre Zahl (bei rund 3.200 Zehdenickern insgesamt) auf gut 100. In der Kapellenstraße besaßen sie eine Synagoge, in der Hirtenstraße ein Badehaus. Im Jahr 1766 wies König Friedrich II. ihnen an der Straße nach Templin 40 Quadratruten (knapp 500 qm) reinen weißen Sand zwecks Anlage eines Friedhofs zu - eines "Guten Ortes", wie die Juden üblicherweise den Platz für ihre Toten nannten. Es war jener Friedhof, auf den heute das Schild in der Friedrich-Engels-Straße verweist.

 

Auto anhalten, dem Schild folgen und den Friedhof ansehen - so einfach hatten wir uns das vorgestellt, doch so einfach ist es nicht. Der Friedhof ist von einer Mauer umgeben, das Gittertor mit dem Davidstern in der Mitte verschlossen. Eine Tafel neben dem Eingang verrät, dass man sich bei der Touristinfo im Rathaus den Schlüssel abholen kann. Zwar sind wir ein wenig frustriert angesichts dieser Hürde, doch jedem, der die antisemitischen Ausschreitungen der letzten Jahre mitbekommen hat, ist der Sinn dieser Maßnahme


verständlich. Also auf zur Touristinfo, Schlüssel geholt, und abermals stehen wir vor dem Tor. Einen Augenblick später sind wir drin und lassen unsere Blicke über die Anlage schweifen. Gleich hinter dem Eingang befand sich einst ein Gebäude zur rituellen Reinigung der Leichname, von dem heute nur noch eine ausgemauerte Grube erhalten ist. Das daran anschließende Gelände steigt leicht an bis zu einer Mauer am höchsten Punkt, dazwischen stehen etwa drei Dutzend Grabsteine, einige gut erhalten, von anderen existieren nur noch Fragmente. Ein paar Bäume spenden Schatten, hinter der Friedhofsmauer stehen Häuser, nicht weit entfernt reckt sich der Turm der katholischen Kirche. Neugierig nehmen wir die Steine in Augenschein. Manche von ihnen sind einsprachig mit hebräischen Texten beschrieben, bei anderen findet sich zusätzlich zu dem Hebräischen auf der Rückseite eine Übersetzung ins Deutsche. Namen stehen dort, Sterbedaten, die bis in das Jahr 1795 zurückreichen, dazu gibt es Wörter mit religiöser Bedeutung. Der Name Hirschfeld taucht gleich mehrmals auf, es gibt einen Raphael Jacob Guttmann, einen Leven Lazarus Barkowski und eine Sarah Cohn. "Hier ruht in Gott die irdische Hülle unseres geliebten Vaters

Mendel Jakob", steht auf einem Stein. Daten aus neuerer Zeit sucht man vergebens. Bereits im Jahr 1898 beschloss die Synagogengemeinde Zehdenick ihre Auflösung, womit auch der Friedhof aufgelassen wurde. Zwei Gräber kamen wenige Jahre später noch hinzu, die danach Verstorbenen wurden in der Regel auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weissensee beigesetzt.

 

Ältere Zehdenicker erinnern sich vermutlich noch an die Zeit, als es an der Stelle des "Guten Ortes" ganz anders aussah. Keine Grabsteine, keine Mauer und kein eisernes Tor, dafür jede Menge Gestrüpp und Müll und die abschüssige Fläche im Winter als Rodelbahn für die Kinder. Der zunehmende Antisemitismus im Deutschland des beginnenden 20. Jahrhunderts hat auch die Zehdenicker Juden nicht verschont. Aus den langjährigen Mitbürgern wurden zunächst "die Anderen", bis die Nazis in den 1930er Jahren mit dem großen Aufräumen begannen. Der Friedhof wurde zerstört, die jüdischen Bürger Zehdenicks zuerst drangsaliert, dann wie Millionen ihrer Glaubensgenossen in die Lager deportiert und ermordet: Markus Baruch; Rose Marie Hirschfeld; mit Gertrud,


Hertha, Anni, Dora und Cäcilie gleich fünf Angehörige einer Familie Zöllner ... Die nachfolgende DDR verstand sich zwar als antifaschistisch, doch trotz unzähliger FDJ-Initiativen, Aufbauprogramme und Subbotniks für wen und was auch immer blieb der jüdische Friedhof in Zehdenick bei diesen Aktivitäten außen vor. Ein wenig änderte sich das, als Erich Honecker kurz vor dem Ende der DDR mit einem Vertreter des Jüdischen Weltkongresses zusammentraf und  als infolge dieser Begegnung ein Gedenkstein aufgestellt wurde und eine FDJ-Gruppe einige Aufräumarbeiten durchführte. Eine nachhaltige Wende brach für den Friedhof erst in den 1990er Jahren an. Eine, die auf das Engste mit dem Namen Hans-Jürgen Werner verknüpft ist.

 

Aufhänger war ein bundesweit ausgeschriebenes Projekt "Spuren jüdischen Lebens in unserer Region". Werner, seinerzeit Lehrer an der Zehdenicker Dammhast-Grundschule, begann mit seinen Schülern, auf dem Gelände zu arbeiten. Schnell wurde aus dem einfachen Aufräumen eine aufwändige und mitunter recht anstrengende 

Aktion, die mehrere Jahre dauerte und zahlreiche Schüler in ihren Bann zog. Spannend war, was man da unter dem Gebüsch entdeckte und bei Grabungen aus der Erde zutage förderte. In Gruben hatten die Friedhofsschänder der Nazizeit die Grabsteine verscharrt, nachdem sie zuvor viele von ihnen zerstört hatten. Unter Anleitung ihres Lehrers, unterstützt von Fachleuten und mit Beteiligung der Zehdenicker AQUA  gruben die Schüler sie aus und setzten sie wieder zusammen. Bruchstücke von Grabsteinen, bei denen das nicht mehr möglich war, wurden in eine Feldsteinmauer integriert, die Maurer auf dem höchsten Punkt der Anlage errichteten. Aus noch kleineren Stücken wurde unterhalb der Mauer ein Buchstabe des hebräischen Alphabets gebildet, der gleichermaßen schalom = Frieden, schaddai = Der Allmächtige und schabbat = Ruhe bedeutet. Ein Schlosser fertigte das Tor mit dem Davidstern an. Schließlich, nachdem der Friedhof nach drei Jahren so weit wie möglich wiederhergestellt war, wurde er im November 1998 nach jüdischem Ritus erneut geweiht. Dem Lehrer Hans-Jürgen Werner und seinen Schülern war etwas gelungen, was in Brandenburg bis dahin einmalig war.



Und danach? Zwei Mal in den folgenden Jahren wurde der Friedhof geschändet, Grabsteine wurden umgestürzt und mussten erneut restauriert und wieder aufgestellt werden. Seither ist es ruhig um diesen Ort. Wie ruhig, wollen wir wissen, weshalb wir bei der Touristinfo nachfragen. Das Ergebnis ist deprimierend - Karin und ich sind seit mindestens einem Jahr die ersten, die sich den Schlüssel abgeholt haben. (Über die Zeit davor konnten wir nichts in Erfahrung bringen.) Keine interessierten Bürger, keine Schulklasse in Nachfolge von Hans-Jürgen Werner, keine jüdische Gemeinde von wo auch immer. Interessiert sich also niemand außer uns für diesen Friedhof? Ein solcher Schluss wäre voreilig. Zum einen ist gut vorstellbar, dass so manch ein Besucher einen Blick über die Mauer oder durch das  

Tor geworfen hat; zum anderen dürfte die Regelung mit dem Schlüssel, den man zuerst abholen und dann wieder zurückbringen muss, abschreckend gewirkt haben. Ein Ausweg aus diesem Dilemma könnten eventuell Führungen sein - vielleicht zum "Tag des offenen Denkmals" -, ein niederschwelliges Angebot, das den einen oder anderen auf den Friedhof locken könnte. Denn auch wenn dieser nicht groß ist und nicht mit besonderen Highlights aufwarten kann wie etwa der nicht weit entfernte größte jüdische Friedhof Europas in Berlin-Weißensee, so gibt es doch auch auf diesem Friedhof einer kleinen jüdischen Gemeinde in einer kleinen märkischen Stadt manch Interessantes zu entdecken.   (Manfred Lentz)