Kurtschlag um 1900
Erinnerungen und Briefe des Pfarrers Franz Ferdinand Vogel
"Guten Tag Herr Lentz" stand in dem Brief einer mir unbekannten Frau Liselotte Stegmann, der mich im November 2018 erreichte. "Sicher werden Sie erstaunt sein, aus Freiamt Post zu bekommen." Freiamt? Ich erinnerte mich: Freiamt ist die Partnergemeinde von Kurtschlag, zu der es nach der Wende recht intensive Beziehungen gab, heute dagegen nur noch lockere. "Als ehrenamtliche Mitarbeiterin des Deutschen Tagebucharchivs in Emmendingen (Kreisstadt von Freiamt) lese und erfasse ich Briefe und Tagebücher von Personen, deren Dokumente an das Deutsche Tagebucharchiv gesandt wurden. Im Augenblick erarbeite ich die Briefe eines Pfarrers an seine künftige Ehefrau. Dieser Pfarrer war von 1900-1901 Hilfspfarrer in Kurtschlag und Grunewald. Sein Name: Franz Ferdinand Vogel. Die Briefe geben einen interessanten Einblick in das Leben im Ort in der damaligen Zeit." Dass ich die Briefe haben musste, war für mich keine Frage, also habe ich Frau Stegmann geantwortet. Inzwischen befinden sich Kopien der Briefe und obendrein noch der Lebenserinnerungen des Pfarrers in meinen Händen. Nachfahren von ihm hatten beides irgendwann dem Deutschen Tagebucharchiv übergeben.
Geboren wurde Franz Ferdinand Vogel im Jahr 1869 in der Neumark, gestorben ist er 1953 in Berlin. Der Aufenthalt in Kurtschlag war damals von vornherein zeitlich begrenzt. Vogel war als Hilfspfarrer des u.a. für Kurtschlag zuständigen Pfarrers Maune tätig, der seinen Wohnsitz in Groß Dölln hatte. Die Briefe hat Vogel seiner späteren Ehefrau Hedwig geschrieben, mit der ihn ein unverkennbar herzliches Verhältnis verband. Nach seinem Weggang aus Kurtschlag war Vogel Pfarrer in Pröttlin, Neuenburg und zum Schluss in Berlin, wo er im Jahr 1944 mit dem Titel "Am Ende der Wanderung: Rückblick auf den Weg" seine Erinnerungen verfasste.
Ohne die Initiative von Frau Stegmann wären wir nie an die Dokumente gelangt, deshalb sagen wir ihr an dieser Stelle unseren herzlichen Dank dafür. Unser Dank gilt außerdem Frau Jutta Jäger-Schenk sowie Herrn Gerhard Seitz vom Deutschen Tagebucharchiv, die ebenfalls mit dieser Angelegenheit befasst waren.
Um die Zeit der Erinnerungen und der Briefe optisch ein wenig zu veranschaulichen, haben wir die Texte mit Fotos angereichert, die in etwa aus Vogels Jahren in Kurtschlag stammen. (Manfred Lentz)
(Die Fotos lassen sich durch Anklicken vergrößern.)
Erinnerungen
"... war ich, seit dem 1. Oktober 1900, Hilfsprediger in Kurtschlag in der Schorfheide, zum Kirchenkreise Templin gehörig. Zwei Gemeinden waren meiner Pastorierung anvertraut, außer Kurtschlag, etwa 600 Seelen, noch Grunewald, etwa 800 Seelen, 2 Km entfernt. Die beiden Gemeinden gehörten eigentlich zu der sehr umfangreichen Pfarrei Groß-Dölln. Aber schon seit einiger Zeit waren Schritte eingeleitet, die beiden Gemeinden von Groß-Dölln zu trennen und zu einer selbständigen Pfarrei Kurtschlag zu machen. Die Verhandlungen waren damals soweit gediehen, daß Kurtschlag-Grunewald eine selbständige Hilfspredigerstelle bildeten, nur die Vermögensverwaltung wurde noch vom Pfarrer in Groß-Dölln wahrgenommen. Pfarrer in Groß-Dölln war zu der Zeit Maune, der merkwürdigste Geistliche, den ich in meinem Leben habe kennen lernen. Unglaubliche Geschichten wurden von ihm in der ganzen Gegend erzählt und geglaubt, von seinem Geiz, von seiner Trägheit, von seiner Selbstherrlichkeit. Es wird ja wohl nicht alles wahr gewesen sein; sonst wäre es nicht zu verstehen, daß die Behörde nicht disziplinarisch gegen ihn eingeschritten ist. Immerhin habe ich selbst einiges erlebt, was man eben erlebt haben muß, um es für möglich zu halten. Als Hilfsprediger von Kurtschlag trat ich ein wenig beneidetes Amt an. Alle meine Vorgänger waren mit Maune bald in
schweren Unfrieden geraten, der sich durchaus nicht damit abfinden konnte, daß Kurtschlag eine selbständige Hilfspredigerstelle war, und daß der Hilfsprediger von Kurtschlag nicht seinem Kommando unterstand. Der Superintendent von Templin versicherte mich, als ich ihm meinen Besuch machte, von vornherein seiner Hilfe, wenn Maune gegen mich ungezogen würde. Ich habe seiner Hilfe nicht bedurft. Ich habe mich zu mehreren Malen gegen Übergriffe oder Zumutungen zur Wehr setzen müssen; aber ich bin eben allein damit fertig geworden. Sein unglaubliches persönliches Benehmen konnte mich nicht kränken und hätte eigentlich niemand kränken sollen; er war so fern von 'Europas übertünchter Höflichkeit', war oft so dumm-dreist, daß es nur ein Lächeln hervorrufen konnte. So bin ich durchaus friedlich mit ihm ausgekommen. Er war in seiner Weise stets liebenswürdig zu mir. Allerdings hat er mich weder mit einem Glück- oder Segenswunsch empfangen noch verabschiedet; das gehörte eben nicht zu seiner Weise.
Kurtschlag und Grunewald waren Walddörfer inmitten der Schorfheide. Fast alle Bewohner lebten von ihrer Arbeit im Walde; viele waren im Hauptberuf Maurer oder Schiffer, die nur im Winter Waldarbeiter waren. Berufslandwirte gab es nur wenige, und auch diese hatten nur geringen Besitz. Die Gemeinden stand in dem Rufe,
(0162/1) Kirche, 1914
(0168) Haus Friedrich Wissmann, um 1900
sehr unkirchlich und schwierig zu sein. Ich habe diese Gemeinden geliebt, und sie haben mich geliebt.
Ich traf in Kurtschlag am 4. Oktober 1900 abends gegen 8 Uhr bei sehr unfreundlichem, naßkaltem Wetter ein. Ich war bis Zehdenick mit der Bahn gefahren. Von dort fuhr ich mit dem Omnibus, der zwischen Zehdenick und Groß-Dölln verkehrte und auch vor Kurtschlag eine
Haltestelle hat. Die Chaussee führte nicht durch das Dorf hindurch, sondern in einer Entfernung von vielleicht 300 m vorüber. Da ich meine Ankunft angemeldet hatte, nahm mich der Gemeindevorsteher an der Haltestelle des Omnibus in Empfang und führte mich in meine Wohnung, die ich im Hause des Gemeindevorstehers hatte. Herr Schäfer - so hieß der Gemeindevorsteher -, ein Mann von etwa 30 Jahren, und seine blutjunge Frau (18 Jahre alt) waren sehr liebe Leute, die mir in der Folge viel Hilfe und Freundlichkeit erwiesen haben. An jenem ersten Abend wollten sie mir vor allem ein deutliches Bild geben, in welcher Lage ich mich in Kurtschlag befinden würde, und namentlich Frau Schäfer machte den Eindruck, als ob sie darauf wartete, sich an meinem Entsetzen zu weiden. Sie ist freilich nicht auf ihre Rechnung gekommen.
Mein Zimmer war so einfach ausgestattet, wie nur möglich: in der Mitte ein Tisch, um ihn herum drei hölzerne Stühle, die man aber mit Vorsicht behandeln mußte, an der Wand rechts neben der Tür eine altersgraue und altersschwache Holzbank, an der Wand der Tür gegenüber in der Fensterecke das Bett und daneben der Kleiderschrank - das war die ganze Pracht; in der Wand links neben der Tür befand sich ein Kamin und daneben in der Ecke der Ofen. Neben diesem Zimmer befand sich noch, um einige Stufen erhöht,
ein lichtloser, kleiner Raum - Loch müßte man's eigentlich nennen -, der mir aber zum Abstellen von allerlei Sachen sehr wichtig war. Schäfers eröffneten mir am ersten Abend, daß ich aus der Gemeinde keinerlei Hilfe zu erwarten hätte. Ich würde keine Frau im Dorfe finden, die mir mein Zimmer 'machen' wolle; mein Vorgänger sei immer unzufrieden gewesen und habe keine Aufwartefrau lange gehabt, nun hätten sich die Frauen vorgenommen, dem neuen Pastor nichts zu machen. Sie selbst aber, Frau Schäfer, könne die Reinigung meines Zimmers auch nicht übernehmen, da sie mit ihrer eigenen Wirtschaft genug zu tun habe und überdies das kleine Kind - einen Jungen, damals wenige Wochen alt - nähre. Ich tat ihr nicht den Gefallen, entsetzt zu sein, sondern erklärte mit großer Gelassenheit, dann würde ich eben allein meine Wirtschaft machen. So tapfer das mag geklungen haben, in Wirklichkeit war ich, als ich darnach zwischen meinen kahlen und kalten vier Wänden war, durchaus nicht in Hochstimmung. Aber am andern Morgen war die Anwandlung von Niedergeschlagenheit überwunden, und ich habe dann acht Monate lang gern dies Leben ohne jede Hilfe und Bedienung geführt. Zunächst war die Verwunderung über den neuen Pastor, der selbst seine Stube fegte, sein Bett machte, sein Holz hackte, seinen Ofen heizte, seine Stiefel putzte und alle die anderen wirtschaftlichen
(288) Hochzeit Wissmann, 1919
Arbeiten verrichtete, sehr groß. Einige Frauen erschienen, um sich zu überzeugen, ob ich wirklich das Bett ordentlich zu machen verstünde. Nach 2-3 Wochen erklärte mir Frau Schäfer, das gehe doch nicht, daß ich alles alleine machte; nachdem die Leute mich hätten
(0173) Dorfstraße, um 1918
kennen lernen, könnte ich mehr als eine Reinemachfrau haben. Aber ich erwiderte ihr lachend, ich wolle gar keine haben, hätten erst die Kurtschläger nicht gewollt - jetzt wolle ich nicht. Ich zweifle auch gar nicht daran, daß gerade der Umstand, daß ich mich so ohne Groll und Widerspruch in die einfachen Verhältnisse fügte, mir viele Türen zu den Herzen der Gemeindemitglieder geöffnet hat. So lebten diese Menschen selbst; ein Pastor, der es nicht besser haben wollte als sie, war ihnen recht. Es war ein beweglicher, heiterer, aufgeschlossener
Menschenschlag, rechte Nachkommen ihrer Vorfahren, die Friedrich der Große als Ansiedler hierher aus den rheinischen Landen verpflanzt hatte. Ich will hier die Schilderung eines gemütlichen Abends einfügen, die ich in einem Briefe an Mutter gegeben habe: 'Am ersten Weihnachtstage war ich bei Wißmanns zum Abendbrot eingeladen; wir haben bei kaltem Entenbraten, Spickgans u.s.w. nicht schlecht gelebt, zumal es bei uns nicht hieß: sie hatten nicht Wein. Nach dem Abendbrote erschien so ziemlich die ganze Nachbarschaft, und wir alten, verständigen Leute, die alle mit Ausnahme von Herrn Schulze, einem Fräulein Dietz und mir verheiratet waren, haben dann gespielt wie die Kinder, eine Stunde lang z.B. 'stummes Winken', außerdem 'wie gefällt dir dein Nachbar?', 'Deckeldrehen', 'schwarz und weiß verbitt ich mir, ja und nein auch' u.s.w. - Allmählich sammelte sich wieder (am 2. Weihnachtstage) die ganze Nachbarschaft, einige traten mit den naiven Worten ein: 'Ick hürt, dat Sei hier wieren, Herr Pastor, un do dacht ick, mötst ook hengohn.' Den größten Teil des Abends haben wir mit Singen hingebracht. Außer den Weihnachtsliedern sind erklungen: "Ich bete an die Macht der Liebe', 'Harre meine Seele', 'So nimm denn meine Hände', 'Wenn ich ihn nur habe', 'Laßt mich gehn', 'Wo findest die Seele', 'Breite aus die Flügel beide', 'In einem kühlen Grunde', 'Abend wird es wieder',
'Am Brunnen vor dem Tore' u.a.m. Ich war erstaunt, alle diese unsere Lieblingslieder in Melodie und Text (von Anfang bis zu Ende) bekannt zu finden. Die Anregung zum Singen ist übrigens von Herrn Schulze ausgegangen, auf die Wahl der Lieder haben alle eingewirkt. Auch hier wurde immer mehr-, mindestens zweistimmig gesungen.' Auch in meinem Zimmer versammelten sich oft, völlig unangemeldet und uneingeladen, eine Menge Leute. Es wurde immer viel gesungen, nicht selten auch religiöse Fragen besprochen. Nach Weihnachten richtete ich Bibelstunden ein, die sich eines stetig steigenden Besuches erfreuten. Der Besuch des Gottesdienstes besserte sich auch allmählich und war bald durchaus befriedigend, in Grunewald fast noch mehr als in Kurtschlag. In beiden Gemeinden standen tüchtige, für Kirche und Kirchenmusik interessierte Lehrer im Amte, die jederzeit bereit waren, mit ihrem Schulchor im Gottesdienste mitzuwirken. Ich verkehrte mit ihnen auf das freundschaftlichste, namentlich mit dem Lehrer in Kurtschlag, Herrn Schulze ... In Kurtschlag und Grunewald machte ich mich auch mit Eifer daran, Seelsorge zu treiben; waren es doch 'meine' Gemeinden. Ich glaube, es ist niemand in den beiden Gemeinden ernstlich krank gewesen, den ich nicht besucht hätte, oft mehr als einmal. Auch andere Vorkommnisse besonderer Art gaben mir Anlaß, den
(0382) Bäckerei Wichmann, um 1920
Gemeindegliedern persönlich nahe zu kommen. Sie dankten mir mit einem großen Vertrauen. Bald kamen sie mit allen möglichen Anliegen zu mir. Und ich hatte Glück! Ich konnte in mehreren Fällen Hilfe schaffen, so z.B. für eine arme Frau, die seit einem Jahr an einem schweren Augenleiden hilflos dalag, die unentgeltliche Aufnahme in einer Berliner Augenklinik erreichen, aus der sie
(0241) Haus Böbst, um 1890
geheilt wiederkam; oder für eine Familie von Mann und Frau und sechs Kindern, die durch Feuer alles verloren hatte, durch einen Zeitungsaufruf augenblickliche Hilfe bringen, mehreren armen, kranken und schwachen Leuten Unterstützungen besorgen. Selbst in Rechtsfragen wurde ich um Rat angegangen; ich schaffte mir das
damals neu eingeführte Bürgerliche Gesetzbuch an, um den Fragern dienen zu können. Auch ein Testament habe ich aufgesetzt. Ich kann wohl sagen: Ich war in Kurtschlag der Mittelpunkt der Gemeinde. Der ganzen Wesensart dieser Menschen entsprechend, machten sie aus ihrer Wertschätzung gar kein Hehl. Die freundlichsten Urteile und Meinungen wurden mir ins Gesicht hinein gesagt. Man konnte schon eingebildet werden. Ich bin nicht eingebildet geworden, aber aus tiefstem Herzen dankbar gegen Gott, der mir einen leichten Zugang zu den Herzen der Menschen gegeben hat. Viel Freundlichkeiten habe ich in der Gemeinde erfahren. Mehr als einmal geschah es, daß mir bei schlechtem Wetter ein Fuhrwerk zur Verfügung gestellt wurde, damit ich nicht zu Fuß nach Grunewald gehen müßte. In der 'Schlachtezeit' lebte ich billig, soviel 'Kostewurst' bekam ich geschenkt. - Kurtschlag war ja nur eine Hilfspredigerstelle, und ich bin nur acht Monate da gewesen, bin auch mit Freuden geschieden - in die feste Pfarrstelle und ins eigene Heim hinein. Aber es war doch 'meine' erste Gemeinde, und über die Erinnerung an sie liegt mir etwas von der Unvergeßlichkeit einer ersten Liebe. Ich bin niemals wieder nach Kurtschlag gekommen; es ist zu abgelegen und zu schwer zu erreichen. - Am 31. Mai 1901 verließ ich Kurtschlag ..."
Briefe
Kurtschlag, den 5. Oktober 1900
"Mein Ein und Alles!
... ging es mit der Nordbahn bis nach Löwenberg. Hier mußte ich umsteigen. Nach einer weiteren Fahrt von etwa 30 Minuten war ich in Zehdenick. Am Bahnhof stand der Omnibus, der über Kurtschlag nach Dölln fährt, schon bereit. Leider hielt er sich in der Stadt - an der Post und vor einem Gasthof - so lange auf, daß es fast 9 Uhr war, bis wir wirklich unterwegs waren. Von der Landschaft konnte ich natürlich nicht viel sehen; soviel ist gewiß, daß die Chaussee sehr bald hinter Zehdenick den Wald erreicht, und daß dieser Wald sich nur öffnet, um den Dörfern der Parochie Gr.-Dölln Raum zu lassen. Gleich hinter Dölln tritt er wieder ganz dicht an die Chaussee heran und zieht sich dann meilenweit nach Osten und Süden. Aus diesen Bodenverhältnissen ergiebt sich ohne weiteres, daß es hier einen eigentlichen Bauernstand nicht giebt; denn dazu fehlt es an Acker. Doch - ich will nicht vorgreifen. Um 1/4 11 war ich also in Kurtschlag. An der Haltestelle des Omnibus erwartete mich mein Hauswirt, der Ortsschulze Schäfer, ein verständiger und offenbar auch intelligenter Mann. In seiner Wohnung hatten sich einige Nachbarinnen eingefunden, die den neuen Pastor in Augenschein nehmen wollten. Nachdem mir Herr Schäfer mein Zimmer gezeigt hatte, lud er mich
(0128/3) Schule, um 1916
(0148) Klassenfoto mit Lehrer Schulz, 1903
dann auch ein, noch mit hinüber in seine Wohnung zu kommen; den Gefallen that ich ihm dann auch. Auf seine Frage, ob er mir irgend etwas anbieten könne, bat ich um ein Glas heiße Milch. - Nun mein Zimmer! Es ist ziemlich groß und wird durch eine Überfülle an Möbeln nicht eingeengt. Über die Vermietung dieses Zimmers hat Pfarrer Maune einen besonderen Kontrakt aufgenommen; danach
soll es enthalten: ein Bett, einen Kleiderschrank, eine Kommode, einen Tisch, drei Stühle, einen Waschständer, Waschgerät und eine Bank. Die Möbelstücke sind bis auf einen Stuhl auch vorhanden, aber kein Stück mehr. Selbst die einfachsten Bequemlichkeitsvorrichtungen fehlen, z.B. ein Pot de Nuit (ein Nachttopf - ML). Kein Bild, kein frommer Spruch ziert die Wände. Hinter diesem Zimmer liegt eine kleine, leere Kammer, die ich als Rumpelkammer gut verwenden kann. - Gestern Abend konnte ich zunächst nicht einschlafen. Das lag nicht blos an der Neuheit meiner Umgebung, sondern ich fühlte auch den unwiderstehlichen Drang, den Kletterübungen der Mäuse zuzuhören. ... Der heutige Tag begann mit einer kleinen Unannehmlichkeit. Da war wohl Wasser zum Waschen, aber weder Seife noch Handtuch. Auf den Luxus der Seife leistete ich für den einen Tag leichten Herzens Verzicht, nur ungern dagegen entschloß ich mich, mein Oberhemd als Handtuch zu benutzen. Die Stelle des Kaffees vertrat ein Glas heiße Milch, die ich mir von Frau Schäfer erbeten hatte. Ziemlich früh erschien dann diese Dame selbst in meinem Zimmer. Sie ist eine hübsche, junge Frau, an der namentlich die selten-schönen braunen Augen auffallen. Vor 6 Wochen war sie ihres ersten Kindes genesen. Sie scheint ziemlich schwer krank gewesen zu sein, erzählte z.B. von einer
Operation, der sie sich hat unterziehen müssen, geht nun aber auch gradezu mit ihrer Krankheit hausieren; jeder zweite Satz lautet: 'Ich bin doch so sehr leidend.' - Was sie von mir wollte, ist kurz dies: ich kann hier nicht die geringste Bedienung bekommen. Sie sei so leidend, und ihr Mädchen habe genug in ihrer Wirtschaft zu thun. Auf meine Frage, ob sie mir nicht eine Frau im Dorfe nennen könne, die die Zimmerreinigung übernehmen würde, antwortete sie, die werde jetzt wohl im Dorfe gar nicht zu haben sein, die Leute hätten alle mit den Kartoffeln und sonst auf dem Felde zu thun. Da merkte ich, daß sie blos Geld 'herausschinden' wolle, und erklärte ihr deshalb, daß ich dann vorläufig mein Zimmer selbst reinigen würde, bis eine Frau im Dorf zu haben sei. Und so machte ich denn, als sie gegangen war, mein Bett, kehrte - mit einem ge(-) Besen - die Stube aus und beseitigte das schmutzige Wasser. Danach begab ich mich ins Dorf. Es zieht sich lang hin von Süden nach Norden. Die Dorfstraße trägt eine dichte Allee von Linden und Akazien. Das Ganze sieht nicht unfreundlich aus. Die Kirche, 1890 erbaut, macht einen überaus saubren und würdigen Eindruck. Das Südende des Dorfes lehnt sich unmittelbar an den Wald an. - Nachdem ich das Dorf durchwandert war, ging ich in den Krug, der meiner Wohnung zunächst liegt. Hier unterhandelte ich über das Mittagessen; 50 Pfg. soll ich zahlen.
(0201) Hochzeit, um 1918
Mein Salon kostet übrigens 15 Mk. monatlich Miete. - Nun will ich für heut aufhören, mein einziger, herziger Liebling. Ich habe Dir noch soviel von Wichtigkeit zu schreiben, daß ich es bedauern würde, wenn ich unter dem Einfluß meiner Müdigkeit zusammendrängte. Der Postbote kommt täglich zwei Mal, des Morgens um 8 und Nachmittags um (-). ... Gute Nacht, mein lieber, lieber Schatz! Nun bete Du für mich!"
(0228) Haus Eichstätt, um1890
"Guten Morgen, mein Liebling! ... Die Bevölkerung ist durchweg arm. Meiner geistlichen Fürsorge sind nur die beiden Dörfer Kurtschlag und Grunewald (3 km) anvertraut. Kappe hat Maune behalten, obwohl es am weitesten von Dölln entfernt ist, weil dort eine Stiftung besteht, deren Zinsen dem Pfarrer gehören! - In jedem der beiden Dörfer habe ich abwechselnd um 8 und um 10 sonntäglich zu
predigen. Das geistige Niveau der Gemeinden ist wahrscheinlich sehr niedrig; denn in Kurtschlag wohnen meist Maurer, in Grunewald Schiffer. Maurer und Schiffer. - Das kirchliche Leben ist, wie mir der Schulze sagt, gleich Null; er schiebt die Schuld nicht auf Schochow oder meinen unmittelbaren Vorgänger, Nauhold, sondern auf Pfarrer Maune, der ein herrschsüchtiger, unfreundlich Mann sei, mit dem noch niemand fertig geworden sei, und mit dem namentlich Nauhold so schlecht gestanden habe, daß es einmal beinahe zum Hauen gekommen sei. Mit diesem Bild stimmte es offenbar überein, wenn der Begrüßungsbrief, den ich gestern früh vom Superintendenten Müller erhielt, begann: 'Lieber Herr Bruder, Gott der Herr segne ihren Eingang in die Diözese und besonders in ihr Amt. Er gebe Ihnen Kraft, Gemeinschaft zu halten mit dem Herrn Pf. Maune!' So vorbereitet trat ich etwa um 3/4 10 die Wanderung nach Gr.-Dölln an. Man geht etwa 35-40 Minuten. Von fernher grüßt den Kommenden der hohe, schlanke Turm der Döllner Kirche. Das Pfarrhaus und die Kirche liegen ganz am Anfang des Dorfes. Pfarrer Maune ist ein Mann, Ende der Fünfziger; er ist seit 1873 im Amt und ebenso lange in Dölln. Die ganze Art, wie er mich empfing, und wie er mit mir verhandelte, konnte einem das Herz schwer machen und hat mir das Herz schwer gemacht. Obwohl ich meinen Besuch angemeldet hatte, war er in
Schlafschuhen und in einem unsauberen Hausrock. Kein herzlich-freundliches Wort hat er gesprochen. Seine Belehrungen über mein Amt hatten allesamt die Form: 'Sie haben das und das zu thun', 'Sie sind verpflichtet -', 'Sie müssen -,' u.s.w. Selbst für die gottesdienstlichen Handlungen hat er Weisungen gegeben, Weisungen, die ich freilich nicht befolgen werde; denn sie beruhen auf dem Brauch von anno 1873 und ignorieren vollständig die Thatsache, daß seit 1893 eine neue Agenda eingeführt ist. Ganz besonders unangenehm berührte mich die Genauigkeit, womit er mir angab, welche Gelder ich an ihn abzuführen hätte: Opfer bei Taufen, Trauungen u.s.w. So gewiß ihm das rechtlich zusteht, so gewiß wäre es eine Ehrensache gewesen, sie mir zu lassen. Soviel ist mir schon jetzt klar: wenn Dryander meinte, für dieses Amt werde mir 'meine Art, mit den Leuten umzugehn', zu statten kommen, so werde ich diese Gewandtheit weniger den Gemeinden gegenüber gebrauchen als im Verkehr mit Herrn Pfarrer Maune. Seine Frau ist vielleicht genießbarer als er, obwohl sie sicher unfein, wahrscheinlich auch ungebildet ist. Außerdem lebt im Hause ein Sohn von etwa 27, 28 Jahren, der offenbar gar nichts geworden ist, denn er dient dem Vater als Schreiber. Von einem freundschaftlichen Verkehr kann also gar nicht die Rede sein; und da andre Nachbarschaft nicht vorhanden ist,
(0282) Gasthof Ney, um 1915
so bin ich auf meine eigne Gesellschaft angewiesen, zumal da auch von dem hiesigen Lehrer wenig zu hoffen ist; gesehen habe ich ihn noch nicht, er ist verreist, aber (ge)hört, daß er ein junger Mensch von 21 Jahren ist. - Frau Pfarrer Maune lud mich ein, zum Mittag dazubleiben, 'weil ich nun doch einmal da sei', und ich nahm diese höfliche Einladung an. - Als ich um 1/2 3 wieder hier anlangte fand ich Deine drei Packete vor. Unter Thränen habe ich sie ausgepackt. Hab
(193/3) Gasthof Steuer, 1914
schönen Dank mein herzlieber Schatz! ... Schwierigkeiten hatte ich, für alles einen Platz zu finden; nun ist aber alles untergebracht. Ich kochte mir gleich gestern Nachmittag Kaffee. Dann holte ich mir zusammen, was ich brauchte: Brot, Salz, Butter, 1/4 Pfund Leberwurst, 1/2 Pfund Schlackwurst. Mein Abendbrot habe ich im buchstäblichen Sinne mit Thränen gegessen. Hernach habe ich an Dich geschrieben. - Nach einer gut verbrachten Nacht sehe ich heut
um vieles zuversichtlicher in die Welt ... Um 7 Uhr stand ich auf,
kleidete mich an, machte mein Bett und kochte Kaffee. ... machte ich mich an die Reinigung meines Wasch- und Kochgeschirrs. Bei dieser Arbeit fand mich Frau Schäfer. Sie war heut viel natürlicher und freundlicher als gestern, nahm meinen Kaffeetopf mit und wusch ihn aus, fegte mir die Stube, lobte und bewunderte, wie schön ich das Bett gemacht hätte, sah sich meine Kücheneinrichtung an und meinte schließlich, bei mir könnte jeder kommen, so sauber und nett sehe es aus. ... Nun leb wohl, mein Liebling! Gott helfe mir auch durch diese Zeit der Prüfung hindurch! Ich will seines Segens warten. Schmerzlichst sehnt sich nach Dir Dein Schatz."
"Osterburg, d. 6. Oktober 1900
Mein einziglieber Schatz!
... Du bist ja erst sehr spät in Kurtschlag gewesen, wie geht das zu, Liebster? Meinst Du wirklich, daß Du selbständig wirtschaften mußt? Das geht doch nicht auf die Dauer. Wenn Du erst ordiniert bist, wollen wir nur lieber heiraten, Schatzel, wir brauchen ja nur 1 Stube, 1 Kammer und vielleicht noch ein Gelaß, in dem ich kochen kann. ... Deinen morgigen Brief erwarte ich mit großer Spannung, hoffentlich ist's doch nicht so traurig in Kurtschlag bestellt, wie wir es uns gedacht haben, Liebster. Wenn ich doch Dir zur Seite stehen könnte,
ich sehne mich unaussprechlich nach Dir, Herz. Morgen wirst Du nun zum ersten Male predigen. Gott gebe Deinen Worten Kraft, daß Du die Herzen der Menschen gewinnen mögest! Gott behüte Dich, mein über alles geliebter Schatz! In Liebe und Treue grüßt Dich Dein Muchelchen."
"Kurtschlag, den 6. Oktober 1900
... dann war's Zeit zum Essen. Es gab delikate Entenleber. Die ganze Wirtschaft macht einen saubren Eindruck, den saubersten die Frau Wirtin ... Nun Deine lieben Briefe! 1) 'Meine neue Heimat' heimelt mich bis jetzt sehr wenig an ..."
"Kurtschlag, den 7. Oktober 1900
... Eingeschoben habe ich aber noch einen kleinen Spaziergang. Ich ging die Chaussee nach Zehdenick zu. Mir entgegen kamen viele Maurer aus unserer Gemeinde, alle zu Rade. Sie boten mir übrigens sehr freundlich 'guten Abend' rsp. erwiderten meinen Gruß. ... In beiden Kirchen war der Besuch recht schwach (anlässlich der Amtseinführung von Vogel - ML), in Kurtschlag 30 Personen (von 600!) und in Grunewald 35 (von 700!), sodaß also auf beide Dörfer derselbe niedrige Satz von 5 % kommt. Und dabei wurde mir versichert, daß das für die hiesigen Verhältnisse ein ganz guter Besuch gewesen sei. Unter meinem Vorgänger sei der Gottesdienst manchmal ganz
(0165/2) Dorfaue, 1918
ausgefallen, oft vor 3, 4, 5 Personen gehalten worden. ... Der Fußweg
von Kurtschlag nach Grunewald ist wundervoll - grade als ob man immerfort durch einen Park ginge. ... Als ich hier anlangte, war's Mittagszeit. Frau Wißmann speiste mich gestern zunächst mit einer tadellosen Suppe (mit Klößen) und dann mit Entenbraten. Dazu gab es Apfelmus. Mehr kann man für 50 Pfg. nicht gut verlangen. ... Während Schäfer bei mir war, erschien auch seine Frau und deren Schwester, die Frau des Kirchenältesten Werdermann, die mir meine Butter liefert. Sie wollten sich offenbar meine 'Wirtschaft' ansehen, und Frau Werdermann wollte namentlich nicht glauben, daß ich das Bett selbst gemacht hätte. Im ganzen Dorf ist gestern wohl kaum von
(128/2) Fließ, 1916
etwas anderem gesprochen worden als von meiner Person, von meiner Wirtschaft und von meiner Predigt. Meine Predigt scheint großen Eindruck gemacht zu haben. ..."
"Kurtschlag, den 2. April 1901
Mein herz-, heiß-, innig- und über alles geliebter Schatz!
... schickte ich mich grade an, den beabsichtigten Spaziergang nach der Försterei anzutreten, da stürzte ein Mann aus dem Dorf in mein Zimmer: 'Herr Pastor, die ganze Kienheide brennt!' So schlimm war's nun zwar nicht, aber jedenfalls war ein Waldbrand ... entstanden. ... Natürlich ging ich auch zur Brandstelle. ... Selbstverständlich war das
ganze Dorf zur Bekämpfung des Brandes mit Spaten und Äxten herbeigeeilt. ..."
"Kurtschlag, den 30. April 1901
"... Ich lag in schönem traumlosem Schlaf, als es heftig gegen meine Thür pochte; es war, wie ich nachher feststellte, 1/2 12. Draußen ertönte Herrn Schäfers Stimme: 'Herr Pastor, dat Dörp brennt.' Das Dorf brannte nun zwar nicht; aber doch ein Wohnhaus im Dorf. Es war ein langgestrecktes Gebäude, in dem 4 Familien wohnten. Als im Jahre 1846 ganz Kurtschlag niederbrannte, blieb allein dies Haus stehn; gestern Nacht nun folgte es dem Geschick der andern. Da das Gebäude aus Fachwerk war, gab es wenig zu retten, zumal da das Feuer schon völlig entfesselt war, als die Spritze in Thätigkeit treten konnte. Wir beschränkten uns darum von vornherein darauf, ein weiteres Um-sich-greifen des Feuers zu verhüten; das ist dann auch ohne besondre Anstrengung gelungen, da der Wind nur mit mäßiger Kraft blies, Strohdächer nicht in der Nähe waren und von 1 Uhr ab ein herrlicher Regen das Naßhalten der Gebäude übernahm. Von den betroffnen vier Familien werden zwei vielleicht nicht großen Schaden haben, da ihre Sachen hoch versichert sind; die beiden andern aber sind übel daran. - Da ist vor allem der Eigenthümer des Hauses. Der Mann hat eine Familie von 6 Kindern. Wiederholt hat ihn in letzter
Zeit Unglück getroffen: seine Frau ist auf dem einen Auge erblindet und hat sich den rechten Mittelfinger müssen abnehmen lassen; er selbst hat vor Jahresfrist ein Bein gebrochen, der Schaden ist schlecht geheilt, so daß der Mann lahm geblieben ist. Das Haus ist ungenügend versichert (mit 2.300 Mk), dazu stark verschuldet. Ich werde wohl im 'Reichsboten' die öffentliche Wohlthätigkeit für ihn anrufen. Bedauernswert ist auch ein alter, gebrechlicher Mann, der in diesem Hause ein Stübchen bewohnte. Er steht ganz allein da, seine geringe Habe ist nicht versichert. Wunderbarerweise blieb sein Stübchen lange unversehrt; als schon beide Flügel des Hauses einen lodernden Trümmerhaufen bildeten, stand Vater Ihrkes Stube noch immer schwarz und fest. Da machten sich einige Männer mit Äxten daran, eine große Bresche in die Hauswand zu schlagen; und dann zogen sie ihm sein Bett heraus. Als das gethan war, warfen sie aber schleunigst einen Feuerbrand in die Stube, damit nur ja nichts stehen bleibe; denn die Versicherungsgesellschaft pflegt solche erhaltenen Reste sehr hoch zu bewerten. ..."
(128/1) "Gasthof von Friedrich Wissmann" (später: "Gasthof zum Mittelpunkt der Erde"), um 1916