Karl Liebknecht und der Fall Wissmann
Es sind nicht gerade viele Namen von bedeutenden Leuten, die man mit Kurtschlag in Verbindung bringen kann. Aber wie sollte das auch anders sein bei einem so kleinen Dorf mit ein paar hundert Einwohnern mitten im Busch. Einen Namen allerdings gibt es, der sich sowohl in den Kurtschläger Annalen als auch in den Geschichtsbüchern findet, und das ist der Name Karl Liebknecht. In den Geschichtsbüchern ist Karl Liebknecht der prominente Marxist und Antimilitarist zu Zeiten des deutschen Kaiserreichs, der SPD-Abgeordnete im Reichstag, der als einziger Angehöriger seiner Partei den Mut hatte, gegen die Kriegskredite zu stimmen, später dann einer der Gründer der KPD und neben Rosa Luxemburg Anfang 1919 eines der beiden Mordopfer reaktionärer Freikorps-Offiziere. In den Kurtschläger Annalen ist der Name Karl Liebknecht - in seiner beruflichen Eigenschaft als Rechtsanwalt - mit der Verteidigung eines Poliers aus Kurtschlag vor Gericht verbunden sowie einige Jahre früher mit der rechtlichen Vertretung von Friedrich Wissmann, seinerzeit Betreiber des nach ihm benannten "Gasthofs von Friedrich Wissmann", der heutigen "Gaststätte Zum Mittelpunkt der Erde". Über beide - den Polier und den Gastwirt - findet sich eine kurze Notiz in der Kurtschläger Dorfchronik:
Ein Vorkommnis im Jahr 1912 stärkte die Sozialdemokratie von Kurtschlag ganz erheblich. Auf einer Berliner Baustelle kam infolge ungenügender Sicherheitsvorkehrungen ein Maurer zu Tode. Der Bauleiter gab einem seiner Poliere - einem Kurtschlager - die Schuld daran. Der jedoch wusste, dass er auf die Gefahrenquelle hingewiesen hatte, was aber von der Leitung nicht beachtet worden war. Für die Verhandlungen vor Gericht benötigte er einen Rechtsanwalt. Bei Prozessen dieser Art übernahm die SPD den Schutz ihrer Mitglieder. Rechtsanwalt Karl Liebknecht verteidigte den Polier und gewann den Prozess. Eine solche Hilfe war für die Partei hier auf dem Lande die beste Propaganda. In dieser Zeit besuchte Karl Liebknecht unser Dorf und sprach vor den Arbeitern. Er vertrat auch den Wirt des heutigen Gasthofes "Zum Mittelpunkt der Erde" erfolgreich.
Erfahren wir also ein paar Details über den Prozess gegen den Polier, so bleibt der Fall Friedrich Wissmann in der Dorfchronik im Dunklen. Vor einigen Monaten nun sind wir bei Recherchen im Zehdenicker Stadtarchiv (Danke für Ihre Hilfe, Frau Gatzke!) auf Zeitungsartikel aus dem Jahr 2009 gestoßen, die Licht in die Angelegenheit bringen. Verfasser dieser Artikel ist Carsten Dräger, erschienen sind sie sowohl in der Gransee-Zeitung als auch in der Märkischen Allgemeinen. Wie im Fall des Poliers, so tritt auch hier wieder Karl Liebknecht in Erscheinung, und wie bei dem Polier geht er aus dem Prozess in Sachen Friedrich Wissmann als Sieger hervor. Und worum ging es bei diesem Prozess? Um eine Angelegenheit, die wir heute nur noch als lächerlich bezeichnen würden, die vor 113 Jahren aber ausreichte, nicht nur den Amtsvorsteher von Zehdenick-Forst und den Landrat des Landkreises Templin zu beschäftigen, sondern obendrein den Königlichen Regierungspräsidenten in Potsdam, den preußischen Innenminister und auf seiten der Justiz mit dem Königlichen Oberverwaltungsgericht das höchste Verwaltungsgericht Preußens. Ein klassischer Fall von David gegen Goliath also, und das über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr. Als eine Justizposse könnte man die Angelegenheit bezeichnen, wahlweise auch als eine amüsante Begebenheit aus der Zeit von Wilhelm Zwo. Doch die Geschichte hat auch eine politische Dimension, zeigt sie doch, wie groß der Hass der herrschenden Kreise auf die Arbeiterpartei SPD war, wie aggressiv ihre Vertreter deren Mitglieder selbst wegen einer absoluten Nichtigkeit verfolgten. Dass sich dieser Fall ausgerechnet in Kurtschlag zutrug, ist einerseits Zufall, andererseits doch nicht ganz, war Rot über viele Jahrzehnte hinweg doch die dominierende politische Farbe von Kurtschlag. Womit es dann auch nicht zufällig war, dass ausgerechnet ein Mann wie Karl Liebknecht die Vertretung des Kurtschläger Gastwirts Friedrich Wissmann übernahm, der aus seiner Sympathie für die Sozialdemokratie kein Hehl machte. Schauen wir uns den Fall in seinen Einzelheiten an, so wie Carsten Dräger ihn in seinen Artikeln zusammengefasst hat. (Manfred Lentz)