20. Kapitel

 

(Frühling 1750, Kurtschlag) 

 

 

Dass die Teerschwelerin sie betrogen hatte, merkte Elsa zehn Tage später, als sie Lisa, eine der Mägde des Schulzen, zufällig auf der Wiese am Döllnfließ traf. Zusammen mit anderen Mägden hatte Lisa gewaschen und anschließend wie üblich die Wäsche am Ufer zum Bleichen ausgelegt. Und ebenfalls wie üblich saßen die Mägde danach noch zusammen und hechelten das eine oder andere Thema aus dem Dorf durch - wer wem gerade schöne Augen machte, wer wie über wen redete und warum dieser oder jener das oder etwas anderes gemacht oder auch nicht gemacht hatte. Diesmal war es ein mit einem blauen Stofffetzen verschlossenes Fläschchen, dem die Aufmerksamkeit der Versammelten galt. Um den anderen Mägden das Riechen an seinem Inhalt zu ermöglichen, hatte Lisa den Stofffetzen entfernt, und reichte das Fläschchen in die Runde. Elsa war als Erste an der Reihe. Ihr Gesicht war wie versteinert, und ihre Hände zitterten, als sie es entgegennahm. „Damit werde ich meine Warze in wenigen Tagen verlieren, hat mir die Teerschwelerin versichert“, sagte Lisa und berührte mit Daumen und Zeigefinger jenes hässliche Stück Fleisch, das ihr ansonsten hübsches Gesicht verunzierte. Was sie sonst noch sagte, hörte Elsa nicht mehr, denn nachdem sie das Fläschchen zuvor an die nächste Magd weitergereicht hatte, eilte sie wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt und ohne sich um die Blicke der anderen zu scheren dem Wald entgegen, wo sie sich ins Moos fallen ließ und hemmungslos zu schluchzen begann. Ein Mittel gegen eine Warze! Und womöglich auch noch gut gegen anderes - gegen Haarausfall vielleicht, gegen Monatsbeschwerden, Zahnschmerzen oder welch großartige Wirkung die Betrügerin ihrem Trank sonst noch zugeschrieben haben mochte. Dem Trank, auf den sie, Elsa, so große Hoffnungen gesetzt hatte! Der bei Jakob den entscheidenden Umschwung bewirken sollte! Ihr Liebestrank!

 

Elsa lag auch noch im Moos, als die Dämmerung einsetzte, und als die Sterne am Himmel zu leuchten begannen, lag sie noch immer da. 

Vorbei war es mit ihrem Traum! Gescheitert an einem raffgierigen, gewissenlosen Weibsstück, das ihr für ein wirkungsloses Gebräu nicht nur ihr Geld abgenommen hatte - das Geld ihrer Eltern -, sondern das sie auch noch ihr Schweigen hatte beschwören lassen! Drei Mal hatte sie Jakob Tropfen von dem Gebräu in sein Essen gemischt, genau so, wie die Teerschwelerin ihr geraten hatte, und nichts war geschehen. Aber wie hätte auch etwas geschehen können bei einem Mittel gegen Warzen oder welch sonstige Lügengeschichten sich dieses Weib noch ausgedacht hatte! Erst spät kehrte Elsa an diesem Abend heim, gab auf Claras und Jakobs Fragen nur nichtssagende Antworten und zog sich anschließend vollständig in sich selbst zurück, so dass die beiden schon meinten, sie sei krank. Und krank war sie tatsächlich, aber auf eine ganz besondere Art, von der weder Jakob noch Clara etwas ahnten und denen sie auch um nichts in der Welt ihre Krankheit hätte enthüllen können - die Krankheit einer unerwiderten Liebe.

 

Aber war das, was ihr da angetan worden war, schon schlimm genug für Elsa, so sollte es drei Tage später noch schlimmer kommen für sie. Es begann mit den Worten von Elsas Mutter „Ich habe mit deinem Vater gesprochen“ - Worte, die sie üblicherweise immer dann benutzte, wenn es nicht um eine Lappalie ging, sondern um etwas Wichtiges. Diesmal war es sogar etwas sehr Wichtiges, und die Mutter hatte nicht die Absicht, erst lange um den heißen Brei herumzureden: „Du wirst heiraten!“, sagte sie. Und so, wie sie es sagte, hörte es sich nicht an, als wolle sie mit ihrer Tochter in aller Ruhe das Für und Wider eines solchen Schrittes erörtern, ganz im Gegenteil: Wir haben beschlossen … du wirst es tun … jede Widerrede kannst du dir sparen … Hatte Elsa anfänglich noch wortlos auf ihre Schuhspitzen gestarrt, immer noch unter dem Eindruck jenes unerhörten Betrugs, so fuhr ihr Kopf nunmehr abrupt in die Höhe. Sie hatte sich verhört! Sie musste sich verhört haben, es konnte gar nicht anders sein! Doch sie hatte sich nicht verhört. „Du wirst heiraten“, wiederholte die Mutter. „Ich hab die



Angelegenheit mit deinem Vater besprochen.“ Getroffen hatte sie Elsa, als diese auf dem Rückweg von einer Erledigung im Auftrag Claras an ihrem Haus vorbeigekommen war, oder richtiger: sie hatte ihre Tochter gezielt abgepasst. „Hast du mal einen Augenblick Zeit für mich?“, hatte sie in dem freundlichsten Tonfall zu ihr gesagt, dessen sie fähig war, und dazu hatte sie mit der Hand eine einladende Bewegung in ihr Haus gemacht. Ein Satz, den Elsa kannte, und der gewöhnlich die Einleitung dafür war, dass ihre Mutter etwas von ihr erfahren wollte, Dorfklatsch zumeist oder sonst etwas Alltägliches. Diesmal jedoch war es ganz anders: „Du wirst heiraten!“

 

Elsas Blick sprang von ihrer Mutter zu dem Bild des Gekreuzigten an der Wand, zu dem Fenster, durch das man auf einen Misthaufen und einen Hühnerstall schaute, und wieder zurück zu ihrer Mutter. Als Ort des Gesprächs hatte diese die Kammer gewählt, in der nachtsüber ihre beiden jüngeren Töchter schliefen, die zu diesem Zeitpunkt nicht anwesend waren, auch nicht in der Nähe, was deutlich machte, dass es ihr um ein ungestörtes Gespräch mit Elsa ging. Die schwieg, teils weil sie mit dem Thema nicht im geringsten gerechnet hatte und nicht im mindesten darauf vorbereitet war, teils aber auch, weil ihr nach den vergangenen Tagen die Kraft zu einer Erwiderung fehlte. Weshalb die Mutter kurzerhand weitersprach. „Ich weiß, dass dir Furchtbares widerfahren ist. Wir haben wiederholt darüber gesprochen. Aber das Leben geht weiter, und inzwischen hat sich alles zum Besseren gewendet. Es ist Zeit zum Heiraten.“ Und sie fügte hinzu: „Darüber habe ich mit deinem Vater gesprochen.“ Eine Wiederholung in der Absicht, ihre eigene Position als eine gemeinsame von ihr und ihrem Mann darzustellen und sie auf diese Weise unangreifbar zu machen. Zu einer festen Wand, gegen die anzurennen sinnlos war. Elsa sagte noch immer kein Wort, was ihre Mutter verunsicherte. Auf Widerworte hatte sie sich eingerichtet, was angesichts des vergangenen Geschehens auch nicht ganz unverständlich gewesen wäre. Das Schweigen ihrer Tochter 

hingegen verwirrte sie, weshalb sie beschloss, gleich noch einen Schritt weiterzugehen. „Wie du dich erinnern wirst, haben wir für deine Schwester seinerzeit einen Mann ausgesucht, und unsere Wahl war gut, denn Adelheits Ehe ist eine Gott wohlgefällige Ehe geworden. Für dich haben dein Vater und ich nun ebenfalls nach einem Mann Ausschau gehalten. Was nicht leicht war, da du ja keine …“ Sie räusperte sich. „Nun ja, es war eben nicht leicht. Aber wir haben einen Mann für dich gefunden. Und wir haben sogar schon mit seinen Eltern gesprochen. Wir mussten ihnen reinen Wein einschenken über dich, und wie du dir vielleicht vorstellen kannst, war das Gespräch nicht einfach. Aber schließlich haben sie zugestimmt. Aus euch kann ein gutes Paar werden, haben sie sogar am Ende gesagt. Und genau so sehen wir das auch … dein Vater und ich.“ Und mit einer geradezu feierlichen Stimme fügte sie hinzu: „Noch in diesem Jahr werdet ihr euch das Ja-Wort geben.“

 

Elsa fühlte sich wie ein Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank, nur dass ein Lamm keine Ahnung hat, was ihm bevorsteht, im Gegensatz zu ihr. Sie hatte das Gefühl, eine Hand lege sich um ihre Kehle und drücke zu. Das Atmen fiel ihr schwer, sie begann zu zittern, und ohne dass es ihr bewusst wurde, sank sie auf das Bett ihrer Schwestern nieder. Und schwieg weiter. Die Mutter zog sich einen Schemel heran und setzte sich „Möchtest du denn gar nicht wissen, wen wir für dich ausgesucht haben?“ Ein paar Atemzüge lang wartete sie, und als ihre Tochter noch immer nicht reagierte, begann sie, alle jene Männer im Dorf aufzuzählen, die - weil sie noch unverheiratet waren - überhaupt in Frage kamen. Um ein halbes Dutzend handelte es sich, die die Mutter im Folgenden einen nach dem anderen durchging, jeweils Namen und Familie, dazu die wichtigsten Vorzüge und Nachteile, und bei jedem am Schluss die Bemerkung: „Der wäre nicht der richtige für dich.“ Eine leicht durchschaubare Taktik mit dem Ziel, einerseits das Bemühen von ihr und ihrem Mann deutlich herauszustellen, für Elsa den Richtigen zu 



finden. Andererseits mit der Absicht, den letztlich Ausgewählten als den idealen Ehemann für sie erscheinen zu lassen, da er bereit war, sie trotz ihrer Vergangenheit zu nehmen. Hätte Elsa sich in einem anderen Gemütszustand befunden, aufmerksam und mitdenkend, so hätte ihr spätestens am Ende dieser Aufzählung klar sein müssen, um welchen von allen theoretisch in Frage kommenden Ehemännern es sich handelte, blieb doch nur noch ein einziger übrig. Aber ihr Zustand hatte ein solches Mitdenken nicht erlaubt. Und selbst wenn es anders gewesen wäre, hätte das Ergebnis sie nicht im geringsten berührt, konnte doch grundsätzlich kein Ausgewählter der richtige für sie sein. „Niclaus ist es“, sagte die Mutter.

 

Schwer wie das Todesurteil eines Richters über einem Verurteilten hingen die Worte der Mutter im Raum, während sie den Blick unverwandt auf ihre Tochter gerichtet hatte und weiter auf eine Reaktion wartete. Auf ein Ja oder ein Nein, aber auf jeden Fall etwas, woüber sich sprechen ließ. Doch es gab keine Reaktion. Stattdessen stand Elsa unvermittelt auf, ging wortlos und ohne die Mutter noch einmal anzusehen zur Tür, und war gleich darauf aus dem Haus. Ob die Mutter ihr noch etwas hinterherrief und wenn ja, was das war - nichts konnte Elsa erreichen. Wie in Trance bog sie hinter dem Hof ihrer Eltern in einen Pfad ein, der zum Wald führte. Es war Zufall, dass sie auf einem Feld Niclaus und seine Brüder bei der Arbeit erblickte. Niclaus - ein Kindergesicht mit gutmütigen Schafsaugen und einer weinroten Nase, mit schleppendem Gang, ständig schwitzend und immer den Eindruck erweckend, als wolle er sich für irgendetwas entschuldigen, womöglich sogar dafür, dass er überhaupt auf der Welt war. Elsa wendete den Blick ab. Doch natürlich ging es für sie gar nicht um Niclaus, um die Wahl, die ihre Eltern für sie getroffen hatten. Ihr ging es um ihre eigene Wahl. Die einzige, die für sie zählte. Nur mit Mühe schaffte sie es bis zu einer Stelle am Waldrand, wo niemand sie sah und wo sie allein war mit sich und ihren düsteren Gedanken.

 

 Erst spät kehrte sie in ihr Haus zurück, und in der Nacht träumte sie von einem Sumpf. Sie stand auf einem schwankenden Untergrund, der ihr keinen Halt bot, sondern sie Stück für Stück immer tiefer in sich einsaugte, während es weit und breit keine Hilfe für sie gab. Am Tag mied sie alle. Um das Haus ihrer Eltern machte sie einen Bogen, durch Clara sah sie hindurch, wenn die in ihre Nähe kam, und begegnete sie Jakob, so empfand sie die Qual einer Hungernden, die das Essen vor sich sah, es jedoch nicht erreichen konnte. Alles schien ohne Ausweg zu sein. Was in der Zukunft noch vor ihr lag, stieß sie ab oder war ihr bestensfalls gleichgültig. Ohne dass es ihr bewusst geworden war, hatte sie sich immer weiter hineingesteigert in eine Welt, in der die Wirklichkeit zu ihrem Feind geworden war. Und dann kam der Tag, an dem ihr Leben auf der Kippe stand.

 

Der Anlass war eine entlaufene Ziege eine Woche nach der Begegnung mit ihrer Mutter. Wie schon oft hatte Elsa die Ziege auf einer Wiese angepflockt, um sie tagsüber grasen zu lassen und am Abend zurück auf den Hof zu holen. Auch an diesem Tag lief alles wie üblich. Schweigend und in sich gekehrt verrichtete sie ihre Arbeiten im Haus, und als die Dämmerung nahte, machte sie sich auf den Weg zu der Ziege. Schon von weitem sah sie, dass das Tier nicht da war, und als sie näher kam, erkannte sie den Grund: Das Seil, mit dem sie es angebunden hatte, war gerissen. Ein Teil hing noch an dem Pflock, den anderen hatte die Ziege um den Hals, was deutlich zu erkennen war, befand sie sich doch ganz in der Nähe, wenngleich auf der anderen Seite vom Fließ. Der kürzeste Weg zu der Ziege hätte durch das Wasser geführt, doch weil das Wasser um diese Jahreszeit noch kalt war, wählte Elsa den Weg über den Steg - eine einfache Konstruktion aus zwei langen Stämmen mit darüber liegenden Brettern, die sie wie alle im Dorf schon zahllose Male benutzt hatte. Dass sich in der Mitte des Stegs ein Brett gelockert hatte, bemerkte sie erst, als sie den Fuß darauf setzte, doch da war es bereits zu spät. Das Brett kippte zur Seite, sie verlor das Gleichgewicht und stürzte ins Wasser.

 



Die jähe Kälte versetzte ihr einen Schock, im Nu saugten sich ihre Kleider voll und es zog sie nach unten. Sehr tief war das Döllnfließ nicht, und mit ein wenig Anstrengung hätte sie es geschafft, wieder aufzutauchen. Aber sie strengte sich nicht an, denn eine Stimme in ihrem Inneren stellte ihr plötzlich die Frage, ob sie das überhaupt wollte. Gesichter wirbelten an ihr vorbei - ihre Mutter und Niclaus; Jakob mit Clara und Albert und dem Kind, das bald folgen würde; und noch einmal Niclaus, diesmal aber zusammen mit ihr selbst, wie er sie zum Altar führte und danach in sein Bett. ‚Nein‘ hämmerte es in ihrem Kopf, dies durfte ihr Leben nicht sein, nicht für alle Schätze der Welt, aber es gab ja einen Ausweg, nur kurz musste sie durchhalten, nur einen winzigen Moment. Schon lösten die Bilder sich auf und es wurde ihr schwarz vor Augen. Plötzlich spürte sie, wie eine Hand ihren Arm packte und eine andere sich um ihre Taille legte, und gleich darauf gab es eine kräftige Bewegung, die sie emporschnellen ließ, raus aus dem Wasser, und dann lag sie am Ufer, keuchend und hustend, und die selben Hände, die sie gerade noch gehalten hatten, schüttelten das Leben in sie zurück. Was ihr Retter sagte, verstand sie nicht, sie vermochte auch sein Gesicht nicht zu erkennen, einer aus ihrem Dorf musste es sein, so wie auch all die anderen aus ihrem Dorf waren, die sich da über sie beugten, lauter verschwommene Gesichter …