33. Kapitel

 

(Juli 1757, derselbe Tag wie im vorhergehenden Kapitel; Zehdenick) 

 

 

Die Begegnung, die an diesem Tag stattfand, war eine von einer ganz besonderen Art: auf der einen Seite eine zweifache Mörderin, die in ihrer Ehe mit einem Mann, von dem sie über viele Jahre hinweg geradezu besessen gewesen war, nicht das erhoffte Glück gefunden hatte und die nun in ihrer Enttäuschung Trost bei einem anderen suchen wollte, und auf der anderen Seite ein schäbiger Lügner, der aus Angst vor einer Bestrafung einen unschuldigen Menschen schwer hatte leiden lassen und der eine seiner Einsamkeit entspringende Leidenschaft für eine verheiratete Frau entdeckt hatte. Eine Gemengelage aus unerfüllten Erwartungen, Sehnsüchten und niederen Instinkten. Eben eine Begegnung von einer ganz besonderen Art.

 

Und es war, als wollte der Himmel den passenden Rahmen dazu setzen.

 

Als Elsa früh am Morgen nach Zehdenick aufbrach, schien die Sonne, und der Tag versprach mild und angenehm zu werden. Ihre drängendsten häuslichen Pflichten hatte sie erledigt, Jakob einen Vorwand für ihren Besuch in Zehdenick genannt, was angesichts eigentlich unaufschiebbarer Arbeiten zu Hause keine Kleinigkeit gewesen war, und nun schritt sie zügig aus. Noch bevor sie die Senke mit den vier alten Eichen erreicht hatte, von wo es nach Bergluch ging, zogen erste Wolken auf, nicht weiß wie die Federn von Schwänen, sondern dunkel wie Amselfedern und solche von Krähen. Als Elsa die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, erwog sie für einen Augenblick, besser umzukehren, doch schon im nächsten Moment entschied sie sich dagegen. Auf keinen Fall wollte sie das tun, hatte sie doch schon viel zu lange auf diese Gelegenheit gewartet.

 

Ein Donnerrollen in der Ferne ließ sie innehalten und lauschen, dann lief sie weiter. Verstummt war das Zwitschern der Vögel, und die Blätter hingen schlaff an den Bäumen. Um schneller voranzukommen, wechselte sie wiederholt zwischen Laufen und Rennen. Als sie Zehdenick vor sich auftauchen sah, fielen die ersten Tropfen. Wind kam auf, die Wolken ballten sich zu einem schwarzen Gebirge, und als sie durchs Stadttor lief, zuckte ein Blitz über den Himmel. Die Händler

auf dem Markt hatten ihre Waren bereits eingepackt und machten sich mit Handkarren und Körben davon, die Besitzer der Läden räumten die Auslagen rein, Eltern riefen ihre Kinder ins Haus. Jedermann suchte Schutz vor den heraufziehenden Gewalten. Dann setzte Regen ein. Elsa hastete an den Häusern vorbei, bis sie unweit der Schleuse die Fischergasse erreicht hatte. „Ich wohne wie damals“, hatte Ulrich gesagt und ihr das Aussehen seines Hauses beschrieben, „klein und gelb“, nun sah sie es vor sich. Von allen ärmlichen Häusern in dieser Gasse war es das ärmlichste: zwei Stockwerke, die Balken verwittert und morsch, die Gefache voller Risse und Löcher, und ein Dach, bei dem unsicher war, wie viele Unwetter es noch aushalten würde. Ihren Umhang über den Kopf gezogen, hastete Elsa zu der Tür, und als sie im Trockenen stand, während der Regen mit jedem Augenblick an Stärke gewann, atmete sie auf. Eine Stimme ließ sie zusammenfahren. Im Dämmerlicht des Hauses hatte sie die Frau nicht sofort bemerkt, die unweit von ihr an der Wand lehnte. Soweit sich erkennen ließ, stand ihr ärmliches Aussehen dem des Hauses nicht nach. „Was willst du hier?“, erkundigte sich die Frau in einem Ton, der weit weniger scharf war, als Elsa erwartet hätte. Ja, fast hatte er etwas Mitfühlendes, so als freue sie sich, dass die andere es noch vor dem Schlimmsten ins Trockene geschafft hatte. „Ich will zu Ulrich“, antwortete Elsa und fügte die Frage hinzu, die sie schon während des ganzen Weges beschäftigt hatte: „Ist er da?“ Die Frau bejahte und musterte Elsa dabei von oben bis unten. Dann streckte sie ihr auf einmal die offene Hand hin. „Schätzchen, du siehst aus, als wärst du verheiratet. Wenn du mir Geld gibst, behalte ich es für mich. Und außerdem besuche ich eine Nachbarin.“ Verdutzt starrte Elsa sie an. „Dann seid ihr allein“, schob die Frau nach. Elsa begriff. Wie es schien, hatte das Leben in der Stadt seine eigenen Regeln. Sie fingerte eine Münze hervor. „Sehr viel scheint dir dein Ulrich ja nicht wert zu sein“, sagte die Frau, fügte aber zu Elsas Beruhigung hinzu: „Nun gut, soll mir recht sein. Du siehst ja auch nicht gerade aus, als wärst du die Mätresse vom König.“

 

Ehe Elsa noch ein Wort sagen konnte, war die Frau aus dem Haus, und die Tür fiel hinter ihr zu, zeitgleich mit einem gewaltigen Donner und 



einem Blitz. Elsa schluckte. Einen bangen Moment wünschte sie, zu Hause zu sein, wo ihr alles vertraut war. Aber waren Gewitter in der Stadt nicht das Gleiche wie auf dem Land, versuchte sie sich zu beruhigen? Sie atmete noch einmal tief durch und stieg dann die morschen Stufen ins obere Stockwerk hinauf. Vor einer Tür blieb sie stehen und lauschte. Dann klopfte sie an, und im nächsten Augenblick stand Ulrich vor ihr. Falls ihr Besuch ihn überraschte, so ließ er sich das nicht anmerken. „Hier bin ich“, sagte sie und lächelte ihn an. Anstelle einer Antwort machte er einen Schritt zur Seite, und sie trat ein. Hatte sie bereits mit einem sehr kleinen Raum gerechnet, so erwies sich dieser nun als noch kleiner als in ihrer Vorstellung. Ein winziger Tisch, ein ebenso winziger Schemel und ein Bett unter dem Fenster waren die einzigen Gegenstände im Raum, wobei für mehr auch gar kein Platz gewesen wäre. Als ein weiterer Blitz über den Himmel zuckte und sein Licht das Zimmer erleuchtete, konnte sie die Schäbigkeit erkennen, in der Ulrich zu Hause war. Wie groß musste der Hass auf seine Brüder sein, dass er ein Leben unter diesen Bedingungen dem Leben auf dem Hof seines Vaters vorzog! Allerdings war sie nicht gekommen, um ihn wegen seiner Lebensumstände zu bedauern. Ohne ein weiteres Wort trat sie an ihn heran, bis sie sich beinahe berührten. Der nächste Schritt kam von ihm. „Was …“, begann er, doch was er weiter sagte, verstand sie nicht mehr, denn seine Worte gingen in einem gewaltigen Donner unter. Aber was sollten auch Worte - sie hatte ihn sehen wollen, weil sie ihn begehrte, und jetzt war sie hier. War das nicht alles, was zählte?

 

Später lagen sie eng beieinander auf dem viel zu kleinen, viel zu harten Bett, während der Regen gegen das Fenster schlug. Und weiter? Sie liebte ihn nicht, und die Sehnsucht nach Liebe war auch nicht der Grund, weshalb sie hier war. Was sie gesucht hatte und was ihr gut tat, 

das war allein das Gefühl einer Nähe, die sie bei Jakob schon lange nicht mehr gespürt hatte. Und damit war die Gemeinsamkeit auch schon erschöpft. Ulrich hatte seine Welt, und sie hatte die ihre, und wenn das Leben auch für jeden von ihnen nicht leicht war, so musste sich doch jeder in seiner eigenen Welt behaupten. Doch treffen konnten sie sich hin und wieder und genießen, was sie von dem anderen empfingen und was sie dem anderen gaben. Schließlich, nachdem das Gewitter vorüber war, erhob Elsa sich von dem Bett. Gleich darauf stand sie an der Tür. „Ich warte auf dich!“ und „Ich komme wieder!“, sagten sie beide gleichzeitig. Gleich darauf war sie aus der Kammer und aus dem Haus und eilte zurück in ihr Dorf.