Der Fall Ewald Schulz
aus: Manfred Lentz, "Die Stasi und der Flugplatz Groß Dölln", 2022 (Die Buschdorf-Bücher, Band 4, Kapitel 9)
Wer mehr lesen will: Exemplare des Buches sind noch erhältlich über info@kurtschlag.de. Außerdem gibt es das Buch in Zehdenick bei der Tourist-Info und in der Klosterscheune.
Eine Bemerkung vorab: Wenn ich im Folgenden den „Fall Ewald Schulz“ schildere, so ist das nicht ganz korrekt, denn es handelt sich um einen „Fall Ewald Schulz und Ehefrau“. Auf den Akten ist angegeben „Ewald Schulz u.a.“. Den Namen der Ehefrau kenne ich nicht, da er von der Stasi-Unterlagen-Behörde geschwärzt wurde, ebenso wie sämtliche Details zu ihrer Identität. Vorgeworfen wurde der Ehefrau im Wesentlichen das Gleiche wie ihrem Mann. Beide haben gemeinsam gehandelt, weshalb sie nach ihrer „Enttarnung“ auch gemeinsam vor Gericht gestellt und verurteilt wurden. „Im Wesentlichen“ heißt, dass es auch Unterschiede gab. Diese sind jedoch marginal, weshalb ich mich entschlossen habe, die Rolle der Ehefrau nur ausnahmsweise zu erwähnen.
MfS = Ministerium für Staatssicherheit der DDR
BStU = Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), verkürzend nach den amtierenden Bundesbeauftragten auch Gauck-, Birthler- bzw. Jahn-Behörde genannt
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Nein, ein Spion vom Kaliber 007 war der Mann nicht, der da kurz vor Weihnachten 1955 in die Fänge der Stasi geriet. Dabei hörte sich das in dem Fernschreiben mit dem Absender „M.f.ST. Berlin Leitung“, dem Zusatz „Blitz“ (vermutlich eine Betonung der Dringlichkeit) und der Adresse „An den Leiter der BVfS Neubrandenburg“ recht spektakulär an: „Obengenannter ist aktiver Agent der ‚CIC‘-Dienststelle Berlin-Lichterfelde/West, Spindelmühler Weg 27. Im Auftrage des Leiters dieser Dienststelle … (geschwärzt) treibt der Obengenannte umfangreiche Spionagetätigkeit in der Deutschen Demokratischen Republik.“ (1) CIC stand für „Counter Intelligence Corps“, zu Deutsch: Spionageabwehrkorps, einer von mehreren US-amerikanischen Geheimdiensten, der in verschiedenen Ländern tätig war, darunter in dem seit dem Kriegsende geteilten Deutschland. Für diesen Dienst also sollte „Obengenannter“ Spionage gegen die DDR betreiben, und zwar nicht nur einfache, sondern „umfangreiche“, was durch die Unterschrift unter dem Fernschreiben noch betont wurde. „Mielke/König“ stand dort, wobei „König“ der Name eines Mitarbeiters gewesen sein dürfte und nicht etwa ein Zusatz zu „Mielke“. Denn ein König war Erich Mielke mitnichten, wohl aber einer der führenden Männer im „M.f.ST.“, d.h. im Ministerium für Staatssicherheit und zwei Jahre später sogar dessen Chef, weshalb sein Name unter dem Fernschreiben Gewicht hatte. Wäre damals bereits abzusehen gewesen, wie sich der Vorgang entwickeln würde, hätten vielleicht sowohl die Unterschrift Mielkes als auch der Wortzusatz „umfangreich“ zur Beschreibung des Vergehens gefehlt. Aber zu diesem Zeitpunkt stand die Aktion noch ganz am Anfang, und da war vieles von dem, was bald darauf zu Tage gefördert wurde, noch nicht bekannt. Insbesondere die Tatsache, dass es sich bei „Obengenanntem“ um ein kleines Licht handelte, besser wohl: um ein ganz kleines Licht. Um einen, der für die DDR nicht im geringsten gefährlich gewesen wäre, selbst wenn er seine Spionagetätigkeit über die nächsten hundert Jahre fortgesetzt hätte.
(1) MfS BV Neubrandenburg AU 13/56 2; Fernschreiben F.S.Nr. 372, 8.12.55, BStU 0060
Ewald Schulz hieß der Mann. Am 30.11.1908 in Templin geboren, war er zum Zeitpunkt seiner Festnahme 47 Jahre alt. Einer, dessen Leben bis dahin vor allem von zwei Lebenseinstellungen geprägt war: einer tiefverwurzelten Abneigung gegen das Arbeiten und einer umso größeren Neigung zum Trinken. In seiner späteren Anklageschrift hat der Staatsanwalt den Lebenslauf von Ewald Schulz unter dem Stichwort „Schulz und die Arbeit“ sehr eindrucksvoll zusammengefasst: „Vom 6. bis zum 14. Lebensjahr besuchte er die Volksschule in Templin. Er wurde aus der 4. Klasse entlassen. Im Anschluss hieran begann er die Lehre bei dem Steinsetzermeister Stüwe in Templin. Nach 2 Jahren brach er jedoch diese Lehre ab und begann eine neue Tätigkeit bei der Tiefbaufirma Rose in Templin. Auch hier arbeitete er lediglich 2 Jahre. Der Beschuldigte hatte dann als typischer Gelegenheitsarbeiter bis zu seiner Einberufung zur faschistischen Wehrmacht im Jahre 1942 die verschiedensten Arbeitsstellen inne. So war er 6 Monate in der Stoppkolonne der Reichsbahn in Templin, ein Jahr Arbeiter bei der Kohlenhandlung Seiler in Templin, Saisonarbeiter im Forst Templin, Arbeiter im Kiesschacht in Milmersdorf, Arbeiter in einer Zellwollfabrik in Wittenberg, 1940 bis 1941 Arbeiter im Kiesschacht Götschendorf, anschließend Arbeiter in einer Kohlenhandlung und schließlich Transportarbeiter in Oranienburg. - Bei der faschistischen Wehrmacht wurde er der Artillerie in Frankfurt/Oder zugeteilt. Nach kurzer Ausbildungszeit kam er nach Holland und geriet hier im März 1945 in englische Kriegsgefangenschaft. Im August 1946 kehrte der Beschuldigte nach Templin zurück, er arbeitete 1 Jahr als Hilfsarbeiter bei der Firma Reinsch, wechselte dann auch diese Tätigkeit und war fast ausschließlich als Bauarbeiter in Templin beschäftigt. Vom November 1952 bis Frühjahr 1953 war er Transportarbeiter im Objekt Groß Dölln. Bis zum Zeitpunkt seiner Inhaftierung hatte er anschließend noch 7 weitere Arbeitsstellen inne, hierbei handelte es sich hauptsächlich um Arbeitsstellen der Bau-Unionen. Zum Zeitpunkt seiner Inhaftierung war Schulz Tiefbauarbeiter beim VEB (K) Straßen- und Tiefbau Alt-Hüttendorf.“ (1) Nimmt die Auflistung des Arbeitslebens von Ewald Schulz also einen erheblichen Raum ein, so lässt sich sein gesellschaftliches Leben in wenigen Sätzen zusammenfassen. Er selbst schildert es in einer späteren Vernehmung so: „Von 1947 bis 1948 war ich Mitglied der SED. Ich war zu dieser Zeit mit der Parteikassierung im Rückstand und konnte diese fehlenden Beträge nicht nachzahlen. Ich zog es aus diesem Grunde vor, mich als Mitglied der SED streichen zu lassen. Des weiteren war ich von 1946 bis 1947 Mitglied des FDGB. Ich trat zu damaliger Zeit aus, da ich mich in der Durchführung meiner Arbeit benachteiligt fühlte, und von Seiten des FDGB keine Unterstützung erhielt. Seit dieser Zeit gehöre ich keiner Partei oder Massenorganisation an. - Funktionen habe ich in der Partei oder einer Massenorganisation noch nicht bekleidet. Ich habe mich auch in keiner Weise am gesellschaftspolitischen Leben beteiligt.“ (2)
(1) MfS BV Neubrandenburg AU 13/56 3; Anklageschrift, 27.2.1956, BStU 0178 f
(2) MfS BV Neubrandenburg AU 13/56 1; Vernehmungsprotokoll, 20.12.55 BStU 0084
Nimmt der Staatsanwalt bei der Aufzählung der wechselnden Arbeitsstellen von Schulz eine eher distanzierte Position ein, so ist der zuständige Mitarbeiter beim Volkspolizeikreisamt Templin in einem von ihm nach der Festnahme des Beschuldigten erstellten „Personenermittlungsbericht“ direkter. Er bezeichnet Schulz als „ein arbeitsscheues Element“ und verweist darauf, dass er es „nie lange an einer Arbeitsstelle“ ausgehalten habe, sondern viel im Wald unterwegs gewesen sei, wo er „vermutlich wilderte bzw. frettieren (1) ging. Ebenfalls lag er viel an Seen in der Umgebung, da er den Fischen leidenschaftlich nachstellte.“ Etwas anderes tat Schulz allerdings noch lieber:„Sein Hauptaugenmerk lag in den Gaststätten, wo er sich oft dem Alkohol hingab, wobei oft Zweifel bestanden, woher das Geld dafür herkommt. Außer in den Gaststätten trat Schulz in der Öffentlichkeit so gut wie nicht in Erscheinung.“ (2) Von Schulzes besonderem Interesse an Gaststätten wussten die Stasi-Mitarbeiter zwei Monate zuvor offenbar noch nichts, als sie sich anschickten, ihn auf Anordnung von „Mielke/König“ zu verhaften. Hätten sie es gewusst, dann hätten sie vielleicht nicht zuerst in seiner Wohnung nach ihm gesucht (dort war er nicht), auch nicht an seinem Arbeitsplatz (dort war er ebenfalls nicht), sondern hätten gleich „sämtliche Lokale in Templin kontrolliert, wobei der Festzunehmende in der HO-Gaststätte am Markt“ gefunden wurde. „Von 9.00 Uhr bis 11.30 Uhr wurde er hier mit (geschwärzt) (3) beobachtet. 11.30 Uhr verließ Sch. die HO-Gaststätte und ging mit (geschwärzt) die Stresemannstr. entlang, ca. 200 Meter von der HO-Gaststätte wurden sie von den Mitarbeitern des Referates III angesprochen und unter Vorzeigen der Kripomarke einer Ausweiskontrolle unterzogen. Da es sich um die festzunehmende Person handelte, wurde sie aufgefordert, in den PKW einzusteigen. Dieser Aufforderung kam der Festzunehmende ohne Widerstand zu leisten nach, auch wurde (geschwärzt), die sich bei ihm befand, in die KD (Kreisdienststelle) Templin in Gewahrsam genommen. Im PKW wurde dem Festzunehmenden erklärt, daß er vorläufig festgenommen sei und unseren Anweisungen Folge zu leisten hat. Ohne Zwischenfälle wurde der Festzunehmende am 10.12.1955 um 2.00 Uhr in die Haftanstalt der Bezirksverwaltung Neubrandenburg eingeliefert.“ (4)
(1) frettieren: mit einem Frettchen jagen
(2) MfS BV Neubrandenburg, AU 13/56 2; Volkspolizeikreisamt Templin, Personenermittlungsbericht Ewald und (geschwärzt) Schulz, 7.2.1956, BStU 0043
(3) Die Schwärzungen in dem Festnahmebericht dürften sich auf die Ehefrau beziehen.
(4) MfS BV Neubrandenburg AU 13/56 1; Abteilung VIII, Referat III, Festnahmebericht, 14.12.1955, BStU 0019
Und in dieser Haftanstalt saß der mutmaßliche Spion Ewald Schulz nun, wobei die genauen Umstände, die zu seiner Festnahme führten, trotz mehrerer Aktenordner mit hunderten Dokumenten im Unklaren bleiben. Wurde Schulz verraten? Wie lange war ihm die Stasi bereits auf der Spur? Und welche Fehler hat er möglicherweise gemacht, die zu seiner Enttarnung führten? Während sich auf diese Fragen in den Akten keine Antworten finden, ist das in Bezug auf die Motive, die Schulz und seine Ehefrau angeblich zur Spionage veranlasst haben, anders: „Beide Angeklagten … haben die gleiche Intensität an den Tag gelegt, sie waren beide erfüllt mit einem tiefen Haß gegen unseren Arbeiter-und Bauern-Staat und haben auch aus Feindschaft und aus Geldgier ihre Verbrechen begangen. Die Angeklagten hatten ein gutes Einkommen. Sie hatten keine Kinder, sie waren allein und verdienten beide. Trotzdem war neben der Feindschaft zu unserem Arbeiter-und-Bauern-Staat die Geldgier groß, so daß sie diese Verbrechen ohne Rücksicht auf deren Folgen, aber in Erkenntnis der Gesellschaftsgefährlichkeit durchführten.“ (1) Eine negative Einstellung zur DDR also und „Geldgier“, wobei meiner Vermutung nach Letzteres das entscheidende Motiv gewesen sein dürfte, und zwar im Zusammenhang mit dem Alkohol. „Schulz“, so schildert ein ehemaliger Kellner seine Erfahrungen mit ihm in einer Vernehmung, „hatte im angetrunkenen Zustand das Bedürfnis, mit sämtlichen Gästen in der Gaststätte Bekanntschaft zu machen … Schulz hielt bei seinen Saufgelagen häufig seine Arbeitskollegen frei. Ich brachte meiner Frau gegenüber mehrmals mein Unverständnis zum Ausdruck, indem ich der Meinung war, dass ein arbeitender Mensch nicht soviel Saufgelage veranstalten kann.“ Und er fügte hinzu: „Ich kann jedoch nicht sagen, wie hoch der Verdienst des Schulz war.“ (2) In einer Vernehmung erwähnt dieser einmal einen Betrag von 375 Mark brutto, wozu noch 165 Mark „Auslösung“ kämen (3). In der DDR der 1950er Jahre war das kein ungewöhnliches Einkommen (4), das allerdings schnell aufgebraucht war, wenn ein erheblicher Teil davon für Alkohol ausgegeben wurde. Weshalb es für Ewald Schulz geradezu ein Glücksfall gewesen sein dürfte, als ihm völlig unverhofft eine Aufbesserung seines Einkommens angeboten wurde.
(1) MfS BV Neubrandenburg AU 13/56 3; Urteil, 23.3.1956, BStU 0208
(2) MfS BV Neubrandenburg AU 13/56 2; Vernehmungsprotokoll Karl Hoffmann, 12.1.1956, BStU 0026 f
(3) MfS BV Neubrandenburg AU 13/56 1; Datum unklar, BStU 0055
(4) Das durchschnittliche monatliche Bruttoeinkommen eines Arbeitnehmers in der DDR betrug im Jahr 1955 432 DDR-Mark.
Der Ort, an dem dies geschah, war West-Berlin, und der Anlass war der Besuch bei einer langjährigen Bekannten des Ehepaars Schulz, die sich aus der DDR dorthin abgesetzt hatte. In einer Vernehmung unmittelbar nach seiner Festnahme schildert Ewald Schulz die Umstände seiner Anwerbung, wobei er zunächst zuvor gemachte Angaben korrigiert: „Ich möchte meine bisherigen Aussagen widerrufen, da ich gelogen habe. In Templin wohnte bis ca. Anfang 1953 PETER, Käte (Schreibweise im Original - ML), ca. 52 Jahre, Gastwirtin, jetzt Köchin, jetzt wohnhaft in Westberlin. Von dieser erhielt ich im Frühjahr 1953 einen Brief, in dem ich aufgefordert wurde, sie in Westberlin aufzusuchen. Ein besonderer Grund stand in dem Brief nicht drin. Ich nahm das lediglich aus dem Grunde an, da meine Frau und ich mit ihr freundschaftliche Beziehungen unterhalten hatten. Ich fuhr auch nach Erhalt des Briefes nach Westberlin und suchte PETER, Käte auf. Sie war zu der Zeit noch im Flüchtlingslager Tempelhof (1). Ich meldete mich beim Pförtner und wünschte Frau PETER zu sprechen. … Sie wurde vom Pförtner auch rausgerufen und wir unterhielten uns über belanglose private Dinge. Das ging so lange, bis ich mich verabschieden wollte. Ich wurde aber von der PETER darüber informiert, dass sie mich noch zu einem Herrn bringen will. Ich erkundigte mich natürlich danach, was ich bei dem mir unbekannten Mann soll. Von ihr wurde mir mitgeteilt, dass ich bei dem Herrn mein Geld leichter verdienen kann, indem ich ihm Auskunft über den Flugplatz Groß Dölln geben soll und in der gleichen Form über die Sowjetarmee. Ich war damit einverstanden und erklärte, dass ich mit ihr mitgehen werde. Wir gingen den Tag über in der Stadt spazieren und suchten die mir namentlich unbekannte Person in der Wohnung auf. … Die mir namentlich unbekannte Person stellte an mich … verschiedene Fragen, die sich auf meine Person bezogen. … Ich teilte ihm auch mit, wieviel Geld ich verdiene. Hier ging er drauf ein und fragte, ob ich nicht mein Geld leichter verdienen will. Ich erkundigte mich nach der Art des Geldverdienens. Dazu teilte mir die namentlich unbekannte Person mit, dass ich die Aufgabe habe, über das Objekt Groß Dölln zu berichten, wie viel Flugzeuge dort stationiert sind, Art der Flugzeuge (Typen), Größe des Flugplatzes, Bauten auf dem Flugplatz. Des weiteren sollte ich über die Einheiten der Sowjetarmee berichten. Die Zahl von Panzern, die ich sehe, die Bewaffnung der Fahrzeuge und Panzer, Erkennungszeichen an Panzer und LKW. … Ich hatte mit dieser Person vereinbart, dass ich im Monat 40,- DM West von ihm erhalte. Dafür musste ich natürlich die entsprechenden Informationen geben. Wie er mir sagte, sollte sich der Geldbetrag in der späteren Zeit noch erhöhen. … Ich erhielt insgesamt 3 Mal 40,- DM West. Weitere Geldbeträge habe ich nicht erhalten.“ (2) In einer späteren Vernehmung räumte Schulz eine weitere Falschaussage ein. Anstatt 40.- DM, wie er zunächst zu Protokoll gegeben hatte, habe er jeweils 60.- DM erhalten, bei dem damaligen Schwarzmarktkurs etwa das Vierfache in Mark der DDR.
(1) Das Flüchtlingslager Tempelhof befand sich im Tempelhofer Ortsteil Marienfelde und trug den offiziellen Namen „Notaufnahmelager Marienfelde“. Es war eines von insgesamt drei Lagern, die das Notaufnahmeverfahren für Flüchtlinge aus der DDR und Ost-Berlin abwickelten.
(2) MfS BV Neubrandenburg AU 13/56 1; Vernehmungsprotokoll, 10.12.1955, BStU 0059 ff
Die Identität der „namentlich unbekannten Person“ ist in den BStU-Unterlagen ebenfalls geschwärzt, allerdings geht aus dem Zusammenhang hervor, dass es sich um einen Agenten des bereits erwähnten US-amerikanischen Geheimdienstes CIC handelte. Die Bezirksverwaltung Neubrandenburg des MfS bestätigt das in einem Schreiben: „… (geschwärzt) ist bei der amerikanischen Geheimdienststelle CIC in Berlin-Lichterfelde-West, Spindelmühlerweg 27, als Resident tätig und wirbt Personen aus dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik sowie Groß-Berlin zur Spionagetätigkeit an.“ (1) Zwei Aufgaben waren es, die der Agent dem Ewald Schulz und seiner Ehefrau zugedacht hatte. Die erste bestand in der Sammlung von Informationen über den Flugplatz Groß Dölln sowie über sowjetisches Militär außerhalb des Flugplatzes, insbesondere Panzer. Aufgaben, denen Schulz in der Folgezeit zwar nachkam, doch dürfte der Agent über den Gehalt der beschafften Informationen von einem Treffen zum nächsten zunehmend enttäuscht gewesen sein. In der späteren Anklageschrift gegen Schulz werden die Informationen so zusammengefasst, basierend auf seinen Schilderungen gegenüber den Vernehmern: „(Schulz) erklärte, dass der Flugplatz noch im Bau sei und gegenwärtig vergrößert würde. Er erklärte, dass eine Betonrollbahn gebaut wird und der Flugplatz bereits in Betrieb sei. Es würden einige Düsenjäger stationiert sein, die bereits Probeflüge ausführen. Als der Agent an ihn die Frage richtete, ob in Groß Dölln Bombenflugzeuge stationiert sind, erklärte der Beschuldigte, dass er lediglich Jäger beobachtet hat.“ Und das war’s dann auch schon. Auch Schulzes Beobachtungen außerhalb des Flugplatzes waren mehr als dürftig: „Der Beschuldigte berichtete beim 2., 3. und 4. Treff über von ihm beobachtete Panzer und Kraftfahrzeuge der Sowjetarmee. Der Beschuldigte hatte als Arbeiter bei der Reichsbahn Templin Gelegenheit, mehrere mit Panzern beladene Eisenbahnzüge zu beobachten und berichtete über alle Beobachtungen zu dem Agenten (geschwärzt). Auch die Bewaffnung der Panzer gab er an. So berichtete er, dass diese Panzer seiner Meinung mit 7,5 oder 8,8 cm Geschützen bestückt sind. Bei einem Treff erklärte er, Panzer auf Landwegen in Richtung Vietmannsdorf beobachtet zu haben und erklärte, dass ein Manöver in größerer Entfernung stattgefunden hat.“ (2) Informationen offenbar ohne jegliche Details, darunter womöglich schon längst Bekanntes, was seinen Auftraggeber kaum in Begeisterung versetzt haben dürfte. Zwar geht aus den Dokumenten hervor, dass der Agent von Schulz bei weiteren Treffen umfangreichere und genauere Informationen erwartete. Doch zeigen die Unterlagen, dass auch diese Hoffnungen enttäuscht wurden. Allerdings war die kurzfristig angelegte Beschaffung von Informationen nur die eine Aufgabe, die der Agent Schulz übertragen hatte (3). Die andere war langfristiger Natur.
(1) MfS BV Neubrandenburg AU 13/56 2; Schreiben vom 27.2.1956, BStU 0042
(2) MfS BV Neubrandenburg AU 13/56 3; Anklageschrift, 27.2.1956, BStU 0180 f
(3) Daneben kam noch etwas Technisches hinzu: „… erhielt der Beschuldigte den Auftrag geeignete Stellen für sogenannte tote Briefkästen auszukundschaften und Lageskizzen darüber zu fertigen. Er sollte 3 tote Briefkästen ca. 1 km von seiner Wohnung entfernt an markanten Punkten anlegen und Glasbehälter in die Erde vergraben.“ ebenda, BStU 0180 - (Ein toter Briefkasten ist ein Versteck zur Übermittlung geheimer Nachrichten.)
In Kapitel 4 bin ich kurz auf die politische Großwetterlage nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingegangen. Aus den Bündnispartnern der Anti-Hitler-Koalition waren Feinde geworden, die sich schwer bewaffnet und verstrickt in einem massiven Propagandakrieg gegenüberstanden. In der Terminologie des Westens war das „die freie Welt“ gegen die „kommunistische Diktatur“, in der östlichen Terminologie „die friedliebende Welt des Sozialismus“ gegen den „Imperialismus unter der Führung der USA“. Diese Sichtweise findet sich in der Anklageschrift gegen Ewald Schulz wieder, wenn es heißt: „Je mächtiger das Friedenslager in der Welt wird, je größer die Erfolge unseres Staates sind, um so hartnäckiger wird der Widerstand der Kapitalisten. Der amerikanische Imperialismus arbeitet faktisch seit 1945 an der Vorbereitung eines neuen Krieges. … Auch im vorliegenden Verfahren werden diese Kriegsabsichten offensichtlich.“ (1) Ebenso wie die Bereitschaft von Ewald Schulz - so der Tenor der Argumentation -, den Feind im Fall eines Krieges zu unterstützen. In diesem Zusammenhang spielt ein „Beweisstück“ eine Rolle, das sich - vielleicht weil es sich um etwas Greifbares handelt - durch die gesamten Vernehmungen zieht und auch in der Anklageschrift und im Urteil immer wieder bemüht wird: eine „Spinne“. In einer Vernehmung darauf angesprochen, ob er von dem US-amerikanischen Agenten ein Erkennungszeichen für die Kommunikation mit ihm oder seinem Geheimdienst erhalten habe, hatte Schulz dies zunächst geleugnet, dann seine Aussage aber korrigiert:
„Antw.: Ich habe bisher die Unwahrheit gesagt, wenn ich behauptete, nie etwas von dem Agenten erhalten zu haben. Ich möchte jetzt zugeben, dass ich bei einer Zusammenkunft mit dem Agenten (geschwärzt) im Jahre 1953 oder 1954 ein Erkennungszeichen erhielt, welches ich später in der Durchführung meiner auftragsgemässen Arbeit benutzen sollte. Dieses Erkennungszeichen bestand aus einer papier gewöhnlichen (?) Masse in Grösse von ca. 4 x 4 cm. Auf diesem Erkennungszeichen, d.h. auf dem kleinen Blättchen ist eine Spinne bezw. Spinngewebe mit einer Spinne in der Mitte sichtbar. Dieses kleine Blättchen wurde mir von dem Agenten als Erkennungszeichen gegeben, welches ich erst später benutzen sollte.
Frage: Zu welchem Zweck erhielten Sie dieses Erkennungszeichen?
Antw.: Ich sollte mich mit diesem Erkennungszeichen ausweisen bezw. erkenntlich machen, wenn im Raum von Templin ein westliches Flugzeug notlanden muss und die Besatzung in Gefahr ist. Ich sollte diese Menschen dann auf dem schnellsten Wege nach Westberlin durchschleusen. Auch sprach er davon, dass ich diese Aufträge durchzuführen habe, wenn Fallschirmjäger im Raum von Templin abgesetzt werden.
Frage: Wie sollten Sie mit diesen Personen in Verbindung kommen?
Antw.: Mir wurde von dem Agenten gesprächsweise mitgeteilt, dass sich Menschen, die mit Fallschirmen abgesetzt werden, bei mir melden würden. Diese Personen müssten somit im Besitz meiner Wohnadresse sein. Wenn derartige Personen bei mir erscheinen, würden sie sich mit dem Erkennungszeichen ausweisen bezw. erkenntlich machen, was ich ebenfalls entgegnen sollte. Über nähere Einzelheiten sprach er nicht. …
Frage: Sie sagten aus, von dem Vorhandensein Ihres Erkennungszeichens in Ihrer Wohnung nichts mehr gewusst zu haben. In der letzten Aussage erklären Sie, dem Untersuchungsorgan gegenüber dieses Vorhandensein zu verschweigen. Klären Sie diesen Widerspruch!
Antw.: Ich bin nicht in der Lage, diesen Widerspruch zu klären. Es ist nicht abzuleugnen, dass ich in der ersten Frage die Unwahrheit gesagt habe. Ich wollte dem Untersuchungsorgan nicht den wahren Charakter meiner Verbindungen und den vollen Umfang meines Verbrechens bekanntgeben, um mein Strafmass hierdurch zu mindern.
Frage: Welche Verhaltensmaßregeln erhielten Sie von dem Agenten für den Fall, wenn Sie sich in Gefahr befinden?
Antw.: Der Agent brachte mir gegenüber zum Ausdruck bei der Übergabe des Erkennungszeichens, dass es aus einer Masse hergestellt ist, die man ohne weiteres essen kann. Wenn dieses Blättchen auf die Zunge gelegt wird, so zergeht es im Mund. Ich entnahm hieraus, dass ich im Falle einer ernsten Gefahr so handeln sollte.“ (2)
(1) MfS BV Neubrandenburg, AU 13/56 3; Anklageschrift, 27.2.1956, BStU 0182
(2) MfS BV Neubrandenburg, AU 13/56 1; Vernehmungsprotokoll 21.12.1955, BStU 94 ff
Die "Spinne"
Weitergabe von Informationen an einen US-amerikanischen Geheimdienst sowie die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit ihm im Fall eines Krieges - dies waren die Hauptanklagepunkte, die Schulz sowie seine Ehefrau hinter Gitter brachten. Aber es gab noch zwei weitere Punkte, und setzt man diese ins Verhältnis zu den beiden Hauptvorwürfen und der hohen Strafe, die beide Angeklagte schließlich erhielten, so kann man diese nur kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen. Konkret wurden sie der Ehefrau angelastet: Während der Zusammenkünfte mit dem Agenten „verleumdete die Beschuldigte die Deutsche Demokratische Republik und hetzte, daß die in der Deutschen Demokratischen Republik angebotenen Waren angeblich minderwertiger Qualität seien und daß auch sonst der Lebensstandard im Westen besser sei als in der Deutschen Demokratischen Republik. … Mehrfach hetzte die Beschuldigte gegenüber diesem Agenten, daß sie den erhaltenen Judaslohn von 60.- DM West dringend benötigen würde, um sich zusätzlich Lebensmittel zu kaufen. Wie zum Hohn wurde die Beschuldigte durch den Agenten (geschwärzt) beauftragt, für ihn Lebensmittel in der Deutschen Demokratischen Republik einzukaufen und mit nach Westberlin zu bringen. Hierdurch versuchte der Agent, gleichzeitig die Warenbelieferung der Deutschen Demokratischen Republik zu gefährden. Bekanntlich wird seitens westberliner Agenturen bereits seit längerer Zeit in der Deutschen Demokratischen Republik aufgekauft und nach Westberlin geschleust, um unsere Wirtschaft zu desorganisieren. So verkaufte die Beschuldigte dem Agenten ca. 3 kg HO-Wurst, 10 Eier und mehrfach Pilze. …“ (1) Einmal abgesehen von dem fragwürdigen Verhalten des Agenten, sich im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit wegen eines kleinen Preisvorteils Lebensmittel aus dem Ostteil Berlins mitbringen zu lassen, ist das Selbstbild entlarvend, dass die Justiz hier von ihrem eigenen Staat zeichnet - und zwar nicht in irgendeiner beliebigen Notiz, sondern in einem offiziellen Dokument. Den für niemanden zu übersehen geringeren Lebensstandard in der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik als Hetze zu bezeichnen, offenbart eine geradezu peinliche Unfähigkeit der Funktionsträger dieses Staates zu einer selbstkritischen Einschätzung der eigenen Position, was ein wesentlicher Grund für den späteren Untergang der DDR gewesen ist. Und obwohl man durchaus über die Problematik des Abflusses von Waren von Ost nach West in der damaligen angespannten wirtschaftlichen Situation der DDR diskutieren kann, so lässt sich das Anführen von 3 kg HO-Wurst, 10 Eiern und Pilzen in einem Prozess, in dem es um Spionage geht, nur als in höchstem Maße absurd bezeichnen. Fast ist man als Leser dieser Zeilen überrascht, dass bei der Aufzählung der Lebensmittel nicht auch noch die Sorte der nach West-Berlin verbrachten Wurst verzeichnet ist …
(1) MfS BV Neubrandenburg, AU 13/56 2; Schlussbericht (vor der Hauptverhandlung), 17.2.1956, BStU 0138
Folgt man den Ergebnissen der Ermittlungen, so dauerte die Spionagetätigkeit von Ewald Schulz und seiner Ehefrau vom März bis zum November 1953, also relativ kurze Zeit. Im November will Schulz seine Tätigkeit für den Geheimdienst eingestellt haben, wobei die Modalitäten der Beendigung dieser Beziehungen noch einmal ein deutlicher Hinweis sind, was für ein kleines Licht hier tätig war. In den Akten findet sich ein etwas wirres und nicht mit einer Quellenangabe versehenes Dokument, bei dem es sich wohl um die Aufzeichnungen eines Mithäftlings handelt, der mit Schulz dieselbe Zelle teilte und den Vernehmern Mitteilung von dem dort Gehörten machte. Danach erwähnte Schulz in einem Gespräch eine Absprache zwischen sich und dem amerikanischen Agenten: „Es ist eine Vereinbarung getroffen worden, falls ich beobachtet werde, wollte mich der Agent warnen, indem er mir eine Karte schickt mit der Aufschrift ‚komme mich besuchen‘, sogleich sollte ich mich dann absetzen. Falls ich in Gefahr bin, sollte ich das Abzeichen (die „Spinne“ - ML) verschlucken, damit es nicht in andere Hände gelangt. Eine Karte habe ich bekommen, es war ungefähr im Februar 1954, ich habe nichts unternommen, weil ich glaubte, ich sollte zu dem Agenten kommen, weil ich seit November nicht mehr bei ihm war.“ Die korrekte Wiedergabe des Gesprächs durch den Mithäftling einmal vorausgesetzt, hat sich Schulz durch seine krasse Fehlinterpretation selbst den Boden unter den Füßen weggezogen. Anstatt die Nachricht des Agenten wie verabredet für eine sofortige Flucht zu nutzen, ist er geblieben und hat damit der Stasi den Zugriff auf sich möglich gemacht. Schulz sieht das nicht so. Er führt seine Verhaftung darauf zurück, dass er der Aufforderung zum Kommen nicht Folge geleistet habe: „Ich glaube, dass mich der Agent (geschwärzt) verpfiffen hat, dass ich das Geld eingesteckt habe und jetzt nicht mehr gefahren bin, sonst hat kein anderer etwas davon gewusst. Wie ich erfahren habe, was der Agent … mit mir vorhat, bin ich auch nicht mehr gefahren. Ich bin auch froh darüber, denn mit Speck fängt man Mäuse.“ (1) Eine befremdliche Argumentation: Warum hätte der Agent ihn „verpfeifen“ sollen, und was hatte er mit ihm vor? Fragen, die sich nicht beantworten lassen. Fakt ist allerdings, dass Schulz in dieser Situation die DDR nicht verlassen hat, was in den 1950er Jahren über West-Berlin noch relativ einfach möglich gewesen wäre. Warum zwischen der Beendigung seiner Spionagetätigkeit im November 1953 und der Festnahme im Dezember 1955 ein derart langer Zeitraum verstrichen ist, muss offen bleiben. Wie erwähnt geben die Dokumente keine Hinweise auf die Umstände, die zu seiner Festnahme führten. Vorstellbar ist, dass Schulz unter dem Einfluss von Alkohol geplaudert hat und dabei an den Falschen geraten ist. Allerdings ist das nur eine Vermutung. Was wir dagegen genau kennen, ist das Ende dieses Spionagefalls, der nicht ausschließlich, aber doch zu einem wesentlichen Teil mit dem Flugplatz Groß Dölln zu tun hatte. Im Protokoll der öffentlichen Sitzung des 1. Strafsenats des Bezirksgerichts Neubrandenburg vom 23. März 1956 sind die wesentlichen Punkte noch einmal aufgelistet:
(1) MfS BV Neubrandenburg, AU 13/56 2; Vorg. Schulz, ohne Datum, BStU 0047 f
(2) MfS BV Neubrandenburg, AU 13/56 3; Hauptverhandlung, 23.3.1956, BStU 0202
Angesichts des Nichtvorhandenseins einer unabhängigen Justiz in der DDR dürften die von dem Gericht verhängten Strafen gegen die Angeklagten wohl nicht überraschen. Wie der Staatsanwalt es gefordert hatte, stand es im Urteil: „Im Namen des Volkes! Die Angeklagten Ewald Schulz und (geschwärzt) werden wegen Verbrechen nach Art. 6 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (1) zu einer Zuchthausstrafe von je 8 (acht) Jahren verurteilt. Beide Angeklagten können weder im öffentlichen Dienst noch in leitenden Stellen im wirtschaftlichen und kulturellen Leben tätig sein. Sie verlieren das Recht zu wählen und gewählt zu werden. Die Untersuchungshaft wird beiden Angeklagten in voller Höhe auf die erkannte Freiheitsstrafe angerechnet. Die Kosten des Verfahrens haben die Angeklagten zu tragen.“ (2) Ein zweimaliges „Ich nehme das Urteil an“, beendete den Prozess.
(1) Zu dem Umstand, dass die Verurteilung nicht auf der Basis einer Bestimmung im Strafgesetzbuch erfolgte, wie wir es kennen, sondern auf der Grundlage der Verfassung, schreibt das vom Stasi-Unterlagen-Archiv herausgegebene „MfS-Lexikon“ unter dem Stichwort „Staatsverbrechen“: „Die als Staatsverbrechen bezeichneten Straftatbestände stehen überwiegend in sowjetischer Rechtstradition und gehen letztlich auf Artikel 58 des StGB der RSFSR (‚Konterrevolutionäre Verbrechen‘) zurück. Bis Februar 1958 wurden sie von DDR-Gerichten in Ermangelung konkreter strafrechtlicher Regelungen pauschal mit Hilfe von Artikel VI der Verfassung von 1949 (‚Boykott- und Kriegshetze‘) geahndet.“
Der Art. VI Abs. 2 der Verfassung der DDR von 1949 lautete: „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß, militärischer Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches. Ausübung demokratischer Rechte im Sinne der Verfassung ist keine Boykotthetze.“ Diese Bestimmung war im Sinne einer Generalklausel so formuliert, dass sich darunter alles fassen ließ, was sich im politischen Tagesgeschehen gegen die Interessen der SED richtete. Nach einer Entscheidung des Obersten Gerichts der DDR von 1950 war sie trotz fehlender Strafandrohung „ein unmittelbar anzuwendendes Strafgesetz“.
(2) MfS BV Neubrandenburg, AU 13/56 3; Hauptverhandlung, 23.3.1956, BStU 0203
Acht Jahre Zuchthaus sind ein extrem hartes Urteil für eine Spionagetätigkeit, die sich nur mit sehr viel Fantasie und bösem Willen als „umfangreich“ charakterisieren lässt. Noch dazu, wenn man das schlichte Gemüt des Angeklagten und sein schweres Alkoholproblem in Rechnung stellt. Indes fügt sich dieses Urteil ein in die generelle Härte, mit der die DDR-Justiz in jenen Jahren gegen politische Straftaten vorging. Ihre Haftzeit verbrachten beide Verurteilte weitgehend unauffällig. Wiederholt wurde ihre positive Einstellung zu der im Zuchthaus zu leistenden Arbeit hervorgehoben, es finden sich Hinweise auf Belobigungen und Belohnungen, die ihnen zuteil wurden und auf gute Führung (1), mit der Folge, dass beide „nur“ einen Teil ihrer Strafe - den größeren - absitzen mussten. Am 2. September 1961 (also nur wenige Tage nach dem Mauerbau) wurde Ewald Schulz aus der Haft entlassen, rund 5 Jahre und 9 Monate, nachdem er inhaftiert worden war. Seine Ehefrau kam am 3. Juli 1962 frei, also erst ein Dreivierteljahr später, wobei offenbar die im Prozess hervorgehobene „Verleumdung“ der DDR und deren „wirtschaftliche Schädigung“ durch das Verbringen von Lebensmitteln in den Westen ausschlaggebend waren. Ewald Schulz kehrte nach seiner Entlassung nach Templin zurück und nahm eine Arbeit als Rammer im VEB Straßenbau Althüttendorf, Krs. Eberswalde auf, nach Ablauf seiner Bewährung im September 1964 wechselte er zu der „Hoch- und Tiefbau Privat-Firma Gäde“ in Templin. Sein Leben geändert hat er offenbar nicht, wie aus einem Ermittlungsbericht vom 3.9.1965 hervorgeht: „Es wurde eingeschätzt, daß Sch. eine schlechte Einstellung zur Arbeit hat, indem er sehr stark dem Alkohol verfallen ist und in der Regel monatlich wegen Trunkenheit ca. 5-8 Tage der Arbeit fernbleibt. Zu seinem Verhalten gegenüber unserer Gesellschaftsordnung wurde eingeschätzt, daß er in negativer Weise bisher nicht aufgefallen ist. Sch. ist Mitglied des Anglerverbandes in Templin und beteiligte sich, sofern er nicht betrunken war, an NAW-Arbeiten (2) im Rahmen des Anglerverbandes zur Errichtung von Bootsschuppen. … (Es folgen weitere Angaben zu seinem Alkoholismus - ML) … Zusammenfassend wurde zu Sch. eingeschätzt, daß er bisher keine Lehren aus der Haft gezogen hat.“ (3)
(1) MfS Neubrandenburg AU 13/56 5; diverse Führungsberichte
(2) „Das Nationale Aufbauwerk (NAW) der DDR war eine im November 1951 gegründete … Aktion zur freiwilligen, gemeinnützigen und unentgeltlichen Arbeit, die ursprünglich Bauvorhaben in Ost-Berlin realisieren sollte und dann auf die gesamte DDR ausgeweitet wurde. In den 1960er Jahren wurde das NAW durch die … als volkswirtschaftliche Masseninitiative (VMI) organisierte Aktion ‚Schöner unsere Städte und Gemeinden - Mach mit!‘ … ersetzt.“ - aus: Wikipedia
(3) MfS BV Neubrandenburg AU 13/56 2; Ermittlungsbericht, 3.9.1965, BStU 157 ff
Mit anderen Worten: Ewald Schulz hat so weitergemacht wie vor seiner Inhaftierung (1). Die Frage, ob er am liebsten den Staat verlassen hätte, der ihm so hart zugesetzt hat, stellte sich für ihn nicht, da es infolge des Mauerbaus diese Option nicht mehr gab. Vermutlich hat er den Rest seines Lebens mit den Wölfen geheult und gleichzeitig die Hand in der Tasche zur Faust geballt. In meinen Augen zeigen die Akten das traurige Schicksal eines intellektuell beschränkten, schwer alkoholkranken Mannes, der in eine Spionagegeschichte reingerutscht ist, für deren Bewältigung er ein paar Nummern zu klein war. Was ihn nicht unbedingt sympathisch macht, aber seinen Peiniger, den „ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat auf deutschem Boden“, erst recht nicht. Und wenn wir von der persönlichen Komponente einmal absehen und den Fall unter dem Gesichtspunkt „Die Stasi und der Flugplatz Groß Dölln“ betrachten, der ja das Thema dieses Buches ist? Aus dieser Warte konnte sich die Stasi den Fall zwar durchaus als einen Erfolg anrechnen, allerdings als einen Erfolg auf der alleruntersten Stufe der Bedeutsamkeit. Dazu passt, dass ihr der Fall vermutlich eher durch die alkoholumnebelte Geschwätzigkeit von Schulz in den Schoß gefallen ist als durch eigene Arbeit. Wenn von allen Erfolgen der Spionageabwehr des Ministeriums für Staatssicherheit einer eine Belobigung von „Mielke/König“ verdient hätte, dann ganz gewiss nicht dieser.
(1) In demselben Ermittlungsbericht wird auch eine Einschätzung der Ehefrau vorgenommen: „… leistet sie eine gute fachliche Arbeit und ist auch nicht abgeneigt, an Sonderschichten des Betriebes teilzunehmen. Zum Verhalten (geschwärzt) gegenüber unserer Gesellschaftsordnung wurde eingeschätzt, daß sie bisher in keiner Weise negativ aufgefallen ist. Es wurde jedoch bemerkt, daß sich (geschwärzt) im Wohngebiet nicht am gesellschafts-politischen Leben beteiligt, wobei bemerkt werden muß, daß in der Wohnsiedlung (geschwärzt) insgesamt keine gesellschaftliche Arbeit geleistet wird. Innerhalb des Betriebes besucht (geschwärzt) sämtliche Versammlungen und führt positive Diskussionen. Im Gegensatz zu (geschwärzt) führt die Genannte einen guten Lebenswandel und hat im Wohngebiet als auch im Betrieb einen guten Leumund. Als eine Schwäche wurde bei (geschwärzt) aufgezeigt, indem sie dem Alkohol auch nicht ablehnend gegenübersteht, jedoch noch keinen Anlaß zu Beanstandungen betreffs der Arbeitsdisziplin gab. Sie selbst unterhält im Wohngebiet keine Verbindungen freundschaftlichen Charakters. Verbindungen nach Westdeutschland bzw. Westberlin konnten im Wohngebiet nicht in Erfahrung gebracht werden.“
MfS BV Neubrandenburg AU 13/56 2; Ermittlungsbericht, 3.9.1965, BStU 160
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Die Fotos stammen nicht aus der Haftanstalt Neubrandenburg, in die Ewald Schulz eingeliefert wurde, sondern aus der zentralen Untersuchungshaftanstalt des MfS in Berlin-Hohenschönhausen, wo ich sie im Jahr 2018 aufgenommen habe. Auch wenn es zwischen beiden Anstalten Unterschiede gab, dürfte die Atmosphäre ähnlich gewesen sein.